| # taz.de -- Ralf Rothmanns Weltkriegs-Trilogie: Sehnsucht verändert die Molek�… | |
| > Verletzungen, die an die Kinder vererbt werden: Ralf Rothmanns neuer | |
| > Roman „Die Nacht unterm Schnee“ ist der dritte Teil seiner | |
| > Weltkriegs-Trilogie. | |
| Bild: Die Vergangenheit soll ruhen, man will nach vorn schauen. Szene in Watten… | |
| Der neue Roman beginnt mit einem Rückblick. Das 16-jährige Landarbeiterkind | |
| Elisabeth flieht im „Winter vor dem Ende des letzten Krieges“ aus dem | |
| zerbombten Danzig über das tiefverschneite Land in eine ungewisse Zukunft. | |
| Das Mädchen fiebert, sitzt mit den entkräfteten Männern des Volkssturms im | |
| zugigen Führerhaus eines klapprigen Transportwagens. Sie träumt von Milch, | |
| einem Schloss und einem Prinzen. | |
| Die alles andere als märchenhafte Fahrt gen Westen aber ist schon bald | |
| wieder vorbei. Wo Elisabeth landet, erfahren wir erst später, wobei völlig | |
| klar ist, dass ihr Wunschtraum nicht in Erfüllung gehen wird und eine große | |
| Leidensgeschichte bevorsteht. | |
| So überrascht es nicht, wenn es im folgenden Kapitelanfang, der nach dem | |
| Tod Elisabeths angesiedelt ist, über die Protagonistin heißt: „Ihr war kaum | |
| zu helfen, fürchte ich, und vielleicht können Menschen mit einer besonders | |
| schmerzhaften Vergangenheit ja nicht anders: Sie betäuben sich in jedem | |
| Augenblick neu, und sei es mit Arbeit, denn sie wissen, dass sie mehr oder | |
| weniger verloren sind für das Künftige, das ungeachtet aller bösen | |
| Erfahrungen unser Zutrauen braucht, um zu gelingen.“ | |
| Diese Zeilen schreibt Wolf, der erwachsene Sohn Elisabeths und Walters, an | |
| Luisa, die Freundin der mittlerweile verstorbenen Eheleute, und kaum sind | |
| die Namen im Text gefallen, werden sich Leserinnen und Leser der beiden | |
| vorangegangenen Kriegs- und Nachkriegsromane Ralf Rothmanns an die | |
| Schicksale der Figuren erinnern, vielleicht erst bruchstückhaft, dann aber | |
| immer klarer. | |
| ## Das Leben der Mutter | |
| Die Arbeit an der familienbiografischen Trilogie, die von wiederkehrenden | |
| Gewalterfahrungen handelt, kann dem Autor nicht leichtgefallen sein: | |
| Rothmann hat sich Zeit genommen, vor dem Buch über das Leben der Mutter | |
| einen Erzählband herausgegeben – als brauche er noch etwas Abstand, um die | |
| Geschichte dieses so widersprüchlichen Menschen angemessen zu vollenden. | |
| Tatsächlich ist es auch ratsam, auf dem vorgegebenen Erinnerungspfad zu | |
| bleiben, also [1][„Im Frühling sterben“] zuerst zu lesen und von Walters | |
| Vergangenheit als zwangsrekrutiertem SS-Jüngling zu erfahren, die in den | |
| Folgebüchern nur angedeutet wird. Für das Verständnis der Geschehnisse sind | |
| nicht nur die Abgründe dieses Charakters zentral, auch die Kenntnis von | |
| Luisas Kriegsjugend, die in „Der Gott jenes Sommers“ dargestellt wird, | |
| erleichtert die Lektüre des neuen Romans. Denn abgesehen von den kurzen | |
| Briefpassagen des Sohnes und den regelmäßig eingestreuten Kriegsszenen, | |
| nähern wir uns Elisabeth in „Die Nacht unterm Schnee“ vor allem aus Luisas | |
| Perspektive. | |
| ## Spaß als ausgleichende Gerechtigkeit | |
| Die Erzählerin ist beeindruckt von der selbstbewussten Freundin, erkennt | |
| aber auch ihre tiefen Verletzungen, etwa wenn sie zusammenzuckt, sobald ihr | |
| betrunkene Männer in Uniform entgegenkommen. Es gehört zur Paradoxie | |
| Elisabeths, dass sie ausgerechnet jene Leute anhimmelt, die sie an | |
| schlimmste Zeiten erinnern. Russische Soldaten haben sie in einem düsteren | |
| Holzverschlag vergewaltigt. Schwer verletzt konnte sie den Peinigern | |
| entkommen. Ein anderer Russe hat sie dann in einem unterirdischen Versteck | |
| wieder aufgepäppelt. Sie überlebte, auch wenn sie sich in manchen Nächten | |
| unterm Schnee den Tod wünschte. | |
| Seitdem aber gibt es keine Balance mehr in ihrem beschädigten Leben. Nahezu | |
| glücksgierig wirkt Elisabeth nach dem Krieg, versucht kein Amüsement | |
| auszulassen, als habe sie den immer währenden Spaß als eine Art | |
| ausgleichende Gerechtigkeit verdient. Immer wieder bricht sie zusammen, | |
| begeht einen Suizidversuch, und zwar in der Kantine des neuen | |
| Sozialministeriums, die von Luisas Mutter bewirtschaftet wird. Dort lernt | |
| sie auch Walter kennen, wird ihn nach langer Verlobungszeit heiraten, ihm | |
| sogar auf einen Bauernhof mit kräftezehrender Milchwirtschaft folgen, | |
| obwohl sie lieber in der Stadt bleiben würde. | |
| ## Nicht besser als die Freundin | |
| Immer wieder betrügt Elisabeth ihren gutmütigen Mann, der durchaus etwas | |
| ahnt, sich aber nicht beschwert. Es ist eine lieblose Ehe zweier trostloser | |
| Menschen, die sich doch brauchen. Vielleicht hätte es dem unglücklichen | |
| Paar geholfen, gemeinsam über die Erlebnisse im Krieg zu sprechen. Beide | |
| wählen den Weg der Verdrängung, unter dem nicht nur der gemeinsame Sohn | |
| Wolf leiden wird. | |
| Luisa schildert die Irrwege ihrer Freundin durchaus mit Verständnis, steht | |
| aber keineswegs loyal an ihrer Seite. Seit Kindertagen hegt sie selbst | |
| Gefühle für den zupackenden und gut aussehenden Walter, und als sich | |
| endlich die Chance bietet, mit dem Mann ins Bett zu gehen, verhält sie sich | |
| nicht besser als die oft kritisierte Freundin. | |
| ## Panorama der Wirtschaftswunderjahre | |
| Der Roman, der zunächst die unterschiedlichen Versuche der | |
| kriegstraumatisierten Protagonisten beschrieb, sich in der neuen | |
| Friedensordnung zurechtzufinden, entwickelt sich schon bald zu einem großen | |
| Panorama der Wirtschaftswunderjahre. Walter und Elisabeth haben den | |
| Bauernhof verlassen, leben nun im Ruhrgebiet. Der Mann schuftet im Bergbau | |
| und scheint froh zu sein, sich und sein Leid zumindest tagsüber in den | |
| dunklen Schächten verbergen zu können. | |
| Ralf Rothmann hat in den beiden vorangegangenen Teilen oft mit | |
| surrealistischen Szenen sowie mit Bezügen in die Geschichtsbücher | |
| vergangener Kriege gearbeitet. „Die Nacht unterm Schnee“ ist deutlich | |
| zurückhaltender, was die Wahl der ästhetischen Mittel anbelangt. Rothmann | |
| konzentriert sich auf die „kleine wilde Mutter“, die über sich selbst | |
| einmal sagt: „Die Sehnsucht verändert die Moleküle.“ Irgendetwas im | |
| Innersten dieser Frau ist wirklich mutiert, vermutlich weniger wegen | |
| unerfüllter Sehnsüchte, sondern vielmehr durch ihre verheerenden | |
| Kriegserfahrungen. Unfassbar, dass diese Frau, statt aus dem Leid zu | |
| lernen, ihren Frust an den Nachwuchs weitergibt – womit diese Figur gewiss | |
| stellvertretend für eine ganze Müttergeneration steht: „In der Kindheit | |
| prügelte sie uns bei jeder Gelegenheit; sie schlug Kochlöffel auf uns | |
| kaputt, wobei es meistens um nichts ging, um einen Grasfleck auf der | |
| Sonntagshose, um verschüttete Milch.“ | |
| ## Sie werden schuldlos Schuldige | |
| Viele Romanpassagen, die stumpfe Gewaltexzesse beschreiben, erinnern an | |
| aktuelle Kriegsberichte. Die vielen Toten, Verletzten und seelisch | |
| Verstümmelten werden ihr Leid wohl wieder den nächsten Generationen | |
| vererben. Sie werden schuldlos Schuldige; ein Thema, das sich durch die | |
| gesamte Trilogie Rothmanns zieht. Neben der gesellschaftspolitischen | |
| Dimension seiner Prosa betreibt der Autor immer auch eine literarische | |
| Feldforschung. Wie Luisa die Poesie Rilkes nutzt, um sich von der | |
| Vergangenheit zu befreien, so hat es Rothmann geschafft, eine sehr eigene | |
| Form der biografischen Fiktion zu entwickeln, die von Kritik und Publikum | |
| meist gefeiert, manchmal auch als Kitsch abgetan wurde. | |
| Ein Grund für diese seltsam persönlichen Angriffe könnte darin liegen, dass | |
| der Autor mit den ästhetischen Maßgaben der Nachkriegsliteratur bricht. | |
| Rothmann lässt nicht allegoriewild auf Blech trommeln; dieser Autor spürt | |
| den emotionalen Verwerfungen seiner Figuren nach, spiegelt sie oft im Leid | |
| der Tiere. | |
| Seine Prosa ist der amerikanischen Unterhaltungsliteratur näher als der | |
| mittlerweile angestaubten Avantgarde bundesrepublikanischer Prägung. | |
| Rothmann berührt. Das wurde ihm oft vorgeworfen. Aber was spricht | |
| eigentlich dagegen? Der Autor bringt zudem sich und seine Leiderfahrung | |
| ein. Damit reiht er sich in eine weibliche Tradition europäischer | |
| Autofiktion ein. | |
| ## Die sanfte Heilkraft der Literatur | |
| Rothmann glaubt durchaus an eine sanfte Heilkraft der Literatur. Seine | |
| Stilistik wendet sich gegen einen autoritären Erzählanspruch. Die zentralen | |
| Figuren seiner Familiengeschichte werden in den drei Büchern mit | |
| unterschiedlichen Schwerpunkten aus stets verschiedenen Blickwinkeln | |
| geschildert. | |
| Das Spiel mit den teils widersprechenden Perspektiven auf die Lebensläufe | |
| gehört also zum ästhetischen wie politischen Programm dieser immer auch | |
| selbstkritischen Prosa. Erst im Zusammenspiel entsteht ein überragendes | |
| Gesamtwerk literarischer Geschichtsschreibung. Ralf Rothmann gab sich im | |
| Romankontext den Vornamen Wolf – weil er vielleicht ahnte, dass die | |
| literarische Reflexion über die eigene Familie keineswegs die Arbeit eines | |
| schreibenden Lamms ist. | |
| 19 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Carsten Otte | |
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