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# taz.de -- Bachmannpreis in Klagenfurt: Die Hilflosigkeit der Sprache
> Der Bachmannpreis ist gut losgegangen. Die ukrainische Schriftstellerin
> Tanja Maljartschuk hielt eine bewegende Eröffnungsrede.
Bild: Realität schlägt Worte: Tanja Maljartschuk bei der Eröffnungsrede
Oft ist es mit den Eröffnungsreden ja so, dass sie nicht wirklich der Rede
wert sind. Doch dann betritt die in der Ukraine geborene und in Wien
lebende Bachmann-Preisträgerin von 2018 [1][Tanja Maljartschuk] am
Mittwochabend ans Mikro und hebt zu ihrer Klagenfurter Rede zur Literatur
an.
Die erste Aussage lautet: „Ich betrachte mich als gebrochene, ehemalige
Autorin, die ihr Vertrauen in die Literatur und in die Sprache verloren
hat.“ Die diesjährigen 47. Tage der deutschen Literatur werden anders
ausfallen.
Trotz der bekannten digitalen Reibungsverluste überträgt sich die
körperliche Anspannung im Raum, die Maljartschuk produziert: Der Wettbewerb
wird fünf Tage lang live und in der Mediathek im öffentlich-rechtlichen
Fernsehen (3sat) übertragen, und nicht wenige werden die Lesungen zu Hause
auf dem Sofa oder [2][per Public Viewing] verfolgen. Und doch sind alle auf
einen Schlag im Eiswasser. Der Krieg in der Ukraine hat vor 16 Monaten
begonnen. Und nachdem er im letzten Jahr in Klagenfurt eher weniger Thema
war, ist er jetzt da.
Es ist die alte, doch noch immer ungelöste Frage nach der Sprache, [3][die
Maljartschuk stellt.] Einerseits wird sie zum mächtigen Werkzeug von
Propaganda, andererseits ist sie erbärmlich hilflos, wo Menschen
aufeinander losgehen, pflückt sie erbarmungslos auseinander.
„Die Realität gewinnt jedes Mal“, sagt Maljartschuk, „denn sie bietet
Rettung für einzelne, aber nie für alle zusammen. Sie ist schön, aber
hilflos wie ein Wald der blühenden Bäume.“ Eine Anschuldigung, die schwer
wiegt. Sie wird den Wettbewerb und die Diskussion der Texte in diesem Jahr
in Klagenfurt prägen.
## Unter Putzzwang
Schon am ersten Tag, bei dem zwei Texte dran sind, die Favoriten werden
könnten, wird dies deutlich. Diese beiden stammen von Autorinnen, die
unterschiedlicher nicht auftreten könnten. Die eine, Valeria Gordeev, wurde
von Insa Wilke nach Klagenfurt eingeladen, seit 2021 Jury-Vorsitzende hier.
Gordeev hat Mathematik und Illustration in Berlin und Literarisches
Schreiben in Leipzig studiert. Während sie mitleidlos in die Trickkiste
der Bildungssprache langt, streicht sie sich das engelsgleiche Haar aus dem
Gesicht. Sie liest konzentriert lange, komplexe Sätze, die mit
mathematischer Genauigkeit einen Mann bei der Arbeit beschreiben, der aus
nicht vollends geklärten Gründen unter einer Art Putzzwang leidet.
Jedenfalls schrubbt er nicht einfach die Spüle, sondern reinigt vom
Abflusssieb bis zum Schleimbatzen und den Haarknäulen im Siphon
buchstäblich die hintersten Winkel, und zwar mithilfe mannigfaltiger
Werkzeuge, Reiniger, Polituren und Versiegler, die alle mit bewundernswert
lautmalerischer Präzision, wie unterm Brennglas und darum auch höchst
unterhaltsam, beschrieben werden.
Die Jury zeigt sich begeistert – denn hier, so sind sich alle einig, wird
auf originellste Weise ein Mensch beschrieben, der nicht nur mit
erschreckend militärischer Planmäßigkeit dem Schmutz den Garaus machen
möchte, sondern auch ganz offensichtlich sich selbst, und das trifft nach
Corona nun wirklich einen „hochpolitischen“ Nerv, wie Mithu Sanyal, eine
der beiden Neuen in der Jury, ganz richtig bemerkt.
## Singen wie Edith Piaf
Sanyal, die in ihren Büchern mit viel Verve Themen wie Feminismus,
Rassismus und Kolonialismus beackert und auch in dieser Zeitung eine tolle
Kolumne hatte, verpasst dem Wettbewerb einen aufregenden Twist. Das wird
bei der ersten Lesung des ersten Autors am Donnerstag klar, der auf
Einladung von Sanyal gekommen ist.
Der in Frankreich geborene Autor, Übersetzer und Spoken-Word-Künstler
Jayrome Robinet lebt seit 23 Jahren in Deutschland und seit 13 Jahren als
Mann. Er liest seinen Text nicht etwa einfach vor. Er bietet ihn so genuss-
wie kunstvoll dar, singt und verdreht zwischendurch sogar ein bisschen
Edith Piaf, zerhackt einzelne Absätze seines gedruckten Textes, um sie dann
ohne noch auf das Manuskript zu sehen peu à peu wieder zusammenzusetzen.
Am Ende lässt er sich auf der Zunge vergehen: „Papa, vielleicht ging es
niemals darum, etwas zu werden. Vielleicht geht es im Leben um das
Unwerden. Das Verwerden. Der Mensch zu entwerden, der nicht ich bin.“
## Mit der Kraft der Verzweiflung
Die Jury ist glücklich über diese Worte und diese Performance, aber
gespalten über seine literarische Qualität als Ganzes. Einige sind der
Ansicht, dass die experimentelle Sprache des Autors nicht seinen Inhalten
entspricht. Sind hier etwa Dünkel im Spiel, die auch hier viel zu lange das
Sprechen der meist älteren, männlichen Literaturwissenschaftler und
Kritiker bestimmten?
Was soll konventionell daran sein, einerseits über Gewalt zu schreiben, die
besonders aus Sicht eines Transmanns aus migrantischem Arbeiterhaushalt
überall und nicht nur in der Ukraine ist – und andererseits buchstäblich im
selben Atemzug, mit großer physischer Präsenz und unterschwellig auch aus
der Kraft der Verzweiflung heraus die heilende Kraft der Literatur zu
beschwören? Zumindest ist es ein beachtlicher Redebeitrag. Das findet auch
Mithu Sanyal. Der Bachmannpreis geht noch bis Sonntag.
30 Jun 2023
## LINKS
[1] /Tanja-Maljartschuk-ueber-Traumata/!5890112
[2] /Public-Viewing-Bachmannpreis/!5941467
[3] /Roman-Blauwal-der-Erinnerung/!5576417
## AUTOREN
Susanne Messmer
## TAGS
Literatur
Klagenfurt
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schriftsteller
Jury
deutsche Literatur
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Klagenfurt
Ingeborg-Bachmann-Preis
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