| # taz.de -- Tanja Maljartschuk über Traumata: „Das Verdrängte ans Licht hol… | |
| > Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk lebt in Österreich. | |
| > Ein Gespräch über nur schlecht vergrabene Traumata. | |
| Bild: Die Autorin Tanja Maljartschuk in einer Buchhandlung in Wien | |
| taz am wochenende: Frau Maljartschuk, Sie leben seit über zehn Jahren in | |
| Österreich. Verfolgen Sie auch die deutsche Debatte über die Ukraine? | |
| Tanja Maljartschuk: Früher habe ich sie mehr verfolgt als im Moment. Ich | |
| trete oft in Deutschland auf, spreche mit sehr vielen Menschen mit | |
| unterschiedlicher Meinung. Das tut mir persönlich auch gut. Ich versuche zu | |
| verstehen, wie es überhaupt zu einem Krieg in Europa kommen konnte. Nach | |
| fast acht Monaten Krieg hängen nach wie vor überall ukrainische Fahnen. Die | |
| deutschen Bürger haben sich für Geflüchtete engagiert und zeigen enorme | |
| Solidarität. Gleichzeitig lese ich mit Besorgnis Nachrichten wie etwa aus | |
| Leipzig, wo eine Demonstration von Ukrainern stattfand, die von | |
| Gegendemonstranten als Nazis beschimpft wurden. Das ist für mich schwer zu | |
| ertragen und noch schwerer zu verstehen. | |
| Wie bewerten Sie die Haltung der deutschen Intellektuellen? | |
| Ambivalent. Einerseits unterstützen sie die Ukraine, gleichzeitig versuchen | |
| sie den demokratischen Prozess in der Ukraine immer wieder abzuwerten. Das | |
| passiert, weil sie im Allgemeinen sehr wenig über die Ukraine wissen. | |
| Das ukrainische Exilleben ist eine historische Konstante. Wie sehen Sie | |
| sich als ukrainische Schriftstellerin im Exil in diesem Kontext? | |
| Ich würde mich nicht als Exilantin bezeichnen, denn ich bin freiwillig, der | |
| Liebe wegen, aus der Ukraine ausgewandert. Durch technische Mittel wie | |
| Skype oder WhatsApp fühle ich mich nicht allzu sehr aus dem ukrainischen | |
| Kontext gerissen. Dadurch bin ich einerseits in der Ukraine geblieben und | |
| habe andererseits den deutschsprachigen Raum und die Kultur kennengelernt. | |
| Was für eine Bereicherung. Ich habe mich als freiwillige Weltbürgerin mit | |
| ukrainischen Wurzeln betrachtet. Heute befinden sich diese Wurzeln in | |
| Flammen. Ich kann mich vorm Schmerz nirgendwo auf der Erde verstecken. | |
| Und dennoch beschäftigt Sie das ukrainische Exilleben in Ihrer | |
| literarischen Arbeit. Unter anderem auch [1][in Ihrem Roman „Blauwal der | |
| Erinnerung“.] | |
| Die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert steht natürlich in engem | |
| Zusammenhang zum Exilleben. Es gab mehrere Auswanderungswellen der | |
| ukrainischen Elite. Etwa in den 20er Jahren mussten Intellektuelle vor den | |
| Bolschewiki fliehen. Damals verließen über 50.000 gut ausgebildete Menschen | |
| das Land, praktisch die ganze damalige Intelligenz. Für die ukrainische | |
| Gesellschaft war das eine Katastrophe, die sich im und nach dem Zweiten | |
| Weltkrieg wiederholte. Jedes Mal war es das Gleiche: eine kurze Blütezeit, | |
| die sich mit physischer Vernichtung abwechselte. | |
| Sie schildern in Ihrem Essayband „Gleich geht die Geschichte weiter, wir | |
| atmen nur aus“ eine Episode, die sich in den 2000er Jahren zuträgt. Eine | |
| Taxifahrerin fragt nach Ihrer Herkunft. Ihre Antwort „aus der Ukraine“ weiß | |
| die Frau jedoch nicht einzuordnen. Es scheint, dass die Ukraine in der | |
| Vorstellung des Westens lange keinen festen Platz hatte. | |
| Die Geschichte hat sich 2007 zugetragen. Ich habe sie nicht erfunden, sie | |
| ist wirklich so passiert. Damals war ich noch sehr jung und habe das | |
| Unwissen der Frau nicht als beleidigend empfunden, sondern als normal. Ich | |
| wurde stets als Osteuropäerin wahrgenommen, ja, als Nichteuropäerin sogar. | |
| Heute haben sich die Umstände geändert. Ich habe das Recht, mich zu | |
| empören, da ich mitsamt meiner Kultur, meiner Geschichte und meiner Werte | |
| zu Europa gehöre. | |
| Von deutschen Literaturkritikern wurden Sie in der Vergangenheit immer | |
| wieder in russische Zusammenhänge und Traditionen eingeordnet. Dabei | |
| verorten Sie sich mit Ihrem Schreiben in ganz anderen Erzähltraditionen. | |
| In der ersten deutschsprachigen Rezension meines Romans „Biografie eines | |
| zufälligen Wunders“ wurde ich mit dem russischen Schriftsteller | |
| Saltykow-Schteschedrin verglichen, einem Autor, für den ich mich nie | |
| interessiert habe. Ich fand das damals merkwürdig, gemeint war es wohl als | |
| Kompliment. Heute verstehe ich, dass das ein allgemeines Problem der | |
| Literaturkritik in Deutschland war. Osteuropäische Autoren wurden häufig | |
| nur im Kontext der russischen und sowjetischen Literatur gesehen, obwohl | |
| bereits zwei Generationen in der Ukraine nichts mehr damit zu tun hatten. | |
| Die mitteleuropäische Literatur, Joseph Roth, Franz Kafka, Milan Kundera, | |
| [2][Olga Tokarczuk], bildeten meinen ästhetischen Ursprung. | |
| Eine besondere Bedeutung in Ihrem autobiografisch geprägten Schreiben kommt | |
| der Erinnerung zu. Auch in Ihren aktuellen Essays kehren Sie immer wieder | |
| in die Vergangenheit zurück. | |
| Ich komme aus einem Land, in dem sehr viel durch Terror und Gewalt | |
| vergessen wurde. In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, wurde die | |
| Erinnerung an die Verbrechen praktisch ausradiert. Die Menschen, die vor | |
| dem Zweiten Weltkrieg dort gelebt haben, wurden deportiert oder ermordet. | |
| Ihre Geschichten waren nicht präsent, als ich hier aufgewachsen bin. Man | |
| könnte sagen, ich bin in der Luft aufgewachsen. Ohne Boden unter den Füßen. | |
| Der Boden in der Ukraine ist kontaminiert und vergiftet. Hier liegen | |
| unzählige Opfer der Diktaturen und Regime. | |
| An das Unheil zu erinnern ist auch ein schmerzhafter Prozess. Warum setzten | |
| Sie sich ihm aus? | |
| Bis ich 30 war, habe ich ausschließlich Geschichten über die Gegenwart | |
| geschrieben. Über Verlierertypen, die am Rand der Gesellschaft stehen, dazu | |
| zählte ich mich selbst auch. Erst danach begann ich mich tatsächlich für | |
| dieses seltsame Land zu interessieren, in dem ich aufgewachsen bin. Mir | |
| wurde klar, dass so viele hier Schwierigkeiten mit ihrer Identität hatten, | |
| weil so vieles vergessen und verdrängt wurde. Man kann zwar eine Weile gut | |
| leben, ohne sich zu erinnern. Aber das Trauma kehrt zurück. Das Vergessene | |
| und Verdrängte quält einen und schafft neue Probleme. Die Aufgabe von uns | |
| Schriftstellern und Intellektuellen ist daher, wenn die Zeit kommt, das | |
| Verdrängte ans Tageslicht zu holen. | |
| 10 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Chris Schinke | |
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