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# taz.de -- Bücherentsorgung in der Ukraine: „Russische Literatur ins Altpap…
> Aus Hass auf die russischen Angreifer räumen viele Ukrainer*innen ihre
> Bücherregale leer. Das betrifft Comics, aber auch Klassiker wie von
> Tolstoi.
Bild: Schulbücher in Chernihiv: Welche davon darf man laut Regierungsverordnun…
Luzk taz | Im [1][Zentrum von Luzk] sind an einem Sonntagmorgen die Glocken
der Hauptkathedrale zu hören. Dutzende Trauernde geben zwei Soldaten, die
an der Front gefallen sind, das letzte Geleit. Einige hundert Meter
entfernt, in der Nähe des Theaters, hat sich eine weitere Gruppe von
Menschen eingefunden.
„Russische Literatur ins Altpapier“ heißt ihre Aktion. Sie findet in diesem
Jahr bereits zum dritten Mal in Luzk statt. Die Organisator*innen
haben in den sozialen Netzwerken dazu aufgerufen, von zu Hause Bücher
russischer Autor*innen mitzubringen, sie ins Altpapier zu geben und mit
diesem Geld die ukrainische Armee zu unterstützen.
Dutzende Personen haben sich am Theater eingefunden. Überall stehen Waagen,
alle diskutieren über die Bücher und erinnern sich daran, wo und wann sie
sie gekauft haben. Sie stellen nicht in Frage, diese Werke russischer
Autor*innen gelesen zu haben. Jedoch klagen sie, dass sie zu
Sowjetzeiten [2][während der Russifizierung] keine Gelegenheit hatten,
ukrainische Autoren zu lesen – die teilweise oder ganz verboten waren.
„Die Altpapiersammlung russischer Bücher hat zwei Ziele: unseren Kopf frei
zu bekommen von diesen russischen Narrativen und die Armee zu
unterstützen“, sagt Tatjana Scherschen, eine der Organisator*innen. Sie ist
die künstlerische Leiterin des Kulturpalasts in Luzk. Die Einrichtung wird
die gesammelten Bücher als Altpapier verkaufen, das dann zu Toilettenpapier
oder Pappbechern für Kaffee verarbeitet wird.
„Es tut mir nicht leid, diese Haufen für einen guten Zweck zu spenden.
Ehrlich gesagt, die meisten Bücher habe ich nicht gelesen. Einen Teil davon
haben meine Eltern noch zu Sowjetzeiten gekauft“, erzählt Scherschen. „Als
ich älter wurde, wollte ich vor allem auf Ukrainisch lesen. Einige Bücher
habe ich durchgeblättert, da waren nichts als Lügen zu finden und dann habe
ich sie für immer zugeklappt. Ich möchte dieses Erbe nicht an meine Kinder
weitergeben,“ sagt Anatoli Jantschuk, der in Luzk wohnt.
Die Leute haben viel Kinderliteratur, Comics, Zeitschriften, aber auch
Sammelbände von Anton Tschechow und Alexander Puschkin und Lew Tolstoi –
fünf Exemplare von „Anna Karenina“ – hierhergebracht. Aber es gibt auch
viele Enzyklopädien.
„Das ist jetzt der praktische Nutzen von Puschkin und Dostojewski“, sagt
ein alter Mann, der Bücher auf einem Wägelchen hinter sich herzieht. „Die
russische Geschichte geht in die Geschichte ein“, sagt ein anderer Mann,
der Wassili Tatischtschew (russischer Staatsmann, Historiker, Geograf und
Ethnograf, 1668–1750, Anm. d. Red.), Nikolai Karamin und sogar eine
Broschüre von Wladislaw Surkow, einem der Apologeten der „Russischen Welt“,
mitgebracht hat.
Insgesamt kommt an diesem Tag fast eine Tonne russischer Bücher in Luzk
zusammen. Ein Ehepaar aus Luzk bringt 70 Kilogramm russische Literatur mit,
um sie zu Altpapier zu machen.
Ljudmila Romanjuk, die 1976 von Luhansk nach Luzk gezogen ist, hat ihre
Bibliothek zu Hause entrümpelt. Das Ergebnis: 160 Kilo fürs Recycling.
Eigentlich, so sagt sie, habe sie die Bücher bereits im vergangenen Jahr
loswerden wollen. „Ich hatte viel Schulliteratur, russische Klassiker. Erst
mit der Zeit wurde mir klar, dass ich solche Bücher hatte. Das hat mich
geschmerzt. Vor dem Hintergrund dieser Morde und Zerstörungen, die die
russische Welt über mein Land gebracht hat, wollte ich mich auch der
literarischen Werke der Russ*innen entledigen“, sagt sie.
Auch anderswo wird aussortiert. Von den Beständen der transkarpatischen
wissenschaftlichen Universalbibliothek wurden mehr als 9.000 Bücher in
russischer Sprache beschlagnahmt. Mit dem Geld werden neue ukrainische
Ausgaben angeschafft. Ein Krankenhaus in der Region Schytomyr hat mehr als
100 Kilo russische Bücher für die Altpapiersammlung abgegeben. In der
Stadtbuchhandlung von Kiew, „Sjajwo knyhy“, kamen ganze 25 Tonnen zusammen.
„Mehr als 1.700 Einwohner*innen von Kiew haben mitgemacht. Sie trugen
die Bücher auf ihren Armen, in Koffern, transportierten sie in voll
gepackten Autos, schickten sie mit einem Taxi oder per Post“, teilt die
Buchhandlung mit. „Es wurden 48.000 Bücher gesammelt, für die wir 100.000
Hrywnja (umgerechnet 2.620 Euro) erhalten haben. Das Geld wird verwendet,
um ein Auto für ein Bataillon an der Frontlinie zu kaufen“, hieß es weiter.
Die russischen Bücher verschwinden nicht nur in Privatwohnungen aus den
Regalen, sondern auch in Bibliotheken. Die Direktorin der
wissenschaftlichen Bibliothek in Luzk, Ljudmila Stasiuk, erzählt, dass die
meisten russischen Bücher im Mai entfernt und eingelagert worden seien.
In der Jugendbibliothek des Gebietes Wolhynien hätten die Leser*innen
das selbst initiiert, lange vor der offiziellen Anordnung der Regierung.
„Die jungen Leute sind schon im März zu uns gekommen. Sie waren wütend, als
sie in den Regalen Alexander Puschkin und sowjetische
Kinderbuchautor*innen gesehen haben“, sagt Alla Efremowa, die
Leiterin der Jugendbibliothek. Ungefähr 35 Prozent des Bestandes in ihrer
Bibliothek sind Bücher in russischer Sprache. Wissenschaftliche
Veröffentlichungen zu technischen Disziplinen, die noch nicht ins
Ukrainische übersetzt sind, werden weiterhin vorgehalten.
## Tolstoi und Tschechow vom Lehrplan entfernt
Die Bibliotheken folgen damit der Anordnung des Ministeriums für Kultur und
Informationspolitik der Ukraine. Darin heißt es, Propagandaliteratur sei
aus ukrainischen Bibliotheken zu entfernen.
Der zuständige Minister Oleksandr Tkatschenko hatte im Mai gesagt, [3][dass
Literatur in Bibliotheken vernichtet werde], wenn sie Gewalt gegen oder die
Vernichtung von Ukrainer*innen befördere, die russische Armee
verherrliche. Oder wenn es um Schriftsteller*innen gehe, die unter
Sanktionen oder auf schwarzen Listen stehen. Die frei gewordenen
Bibliotheksregale werden mit [4][ukrainischsprachiger Literatur] und
Büchern ukrainischer Verlage aufgefüllt.
Im Sommer hatten die Verantwortlichen in der Ukraine beschlossen,
russischsprachige Werke von Schriftsteller*innen, deren Werk eng mit der
Ukraine verbunden ist, wie zum Beispiel Nikolai Gogol und Michail
Bulgakow, im Lehrplan der Schulen zu belassen.
Autor*innen wie beispielsweise Alexander Puschkin, Anton Tschechow, Lew
Tolstoi oder Anna Achmatowa [5][werden im Unterricht dagegen nicht mehr
vorkommen]. Zu den Literat*innen, die gelesen werden, gehören ab diesem
Schuljahr unter anderem Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Adam
Mickiewicz, Jane Austen und Victor Hugo.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
23 Nov 2022
## LINKS
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[3] /Ein-halbes-Jahr-Krieg-in-der-Ukraine/!5876828
[4] /Die-ukrainische-Literaturszene/!5885409
[5] /Bildungsreform-in-der-Ukraine/!5879029
## AUTOREN
Juri Konkewitsch
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