| # taz.de -- Die ukrainische Literaturszene: Das Wort für Krieg | |
| > Zwischen Verzweiflung und Kampfeswillen: Die ukrainische Literaturszene | |
| > sucht nach einer Sprache, um Unbeschreibliches auszudrücken. | |
| Bild: Ein ukrainischer Soldat betrachtet eine russische ballistische Rakete | |
| Am 16. März 2022 um 20.16 Uhr notiert Arkadi Babtschenko in seinem | |
| Tagebuch: „Krankenhaus Mariupol. Das muss die ganze Welt sehen. Das muss | |
| die ganze Welt sehen.“ Etwa drei Wochen später, am 2. April, 12.55 Uhr, | |
| findet der russische Autor und Journalist für den Tod des berühmten | |
| ukrainischen Fotografen Maks Lewin knappe, präzise Worte: „Maksym Lewin ist | |
| gefunden worden. Tot. Splitterwunden am Kopf. Schweinehunde. Ich hasse | |
| sie.“ Es ist eine Stakkato-Sprache, fast eine Stammelsprache, in der er das | |
| das Grauen in Worte fasst. [1][Babtschenko kennt den Krieg], er kämpfte | |
| selbst als russischer Soldat im Ersten und Zweiten | |
| [2][Tschetschenienkrieg]. Heute lebt er als Kremlkritiker im Exil und | |
| verachtet das imperiale Russland. | |
| Das notatartige Erzählen ist nach [3][dem 24. Februar] eine typische Form | |
| des Erzählens geworden. Für den wohl berühmtesten ukrainischen Autor, | |
| [4][Serhij Zhadan], ist die Zeit für das literarische Schreiben über den | |
| Krieg bis heute noch nicht gekommen. Bereits Anfang April postet er den | |
| Appell: „Lasst uns daher für den Sieg arbeiten, die Streitkräfte der | |
| Ukraine unterstützen. Alles andere später. Jetzt nichts als Widerstand, | |
| Kampf und gegenseitige Unterstützung. Es gibt keine Worte. Einfach keine.“ | |
| Zhadan unterstützt die Frontsoldaten selbst mit Hilfslieferungen. Er führt | |
| Kriegstagebuch auf Facebook, als Kriegspartei. | |
| Auch [5][die berühmte ukrainische Autorin Oksana Sabuschko] hat einen | |
| langen Essay geschrieben, der am 23. Februar einsetzt. An dem Tag wollte | |
| sie eigentlich nur für eine zweitägige Lesereise nach Polen fliegen – dann | |
| kamen die Bomben, Sabuschko musste im Ausland bleiben. Für sie ist es die | |
| Literatur – und nur die Literatur –, die in der Lage ist, die Zäsur zu | |
| beschreiben, die die Zeitenwende für die kollektive Psyche bedeutet. „Für | |
| die Veränderungen im Massenbewusstsein, die am schwierigsten | |
| nachzuverfolgen sind, findet die Soziologie nicht das richtige | |
| Instrumentarium“, schreibt sie. Auch die Politikwissenschaft sei dazu nicht | |
| geeignet. „So bleibt nur die Literatur als einzig geeignetes Werkzeug zu | |
| ihrer Fixierung.“ | |
| ## Das Suchen nach einer Sprache für den Terror | |
| Der russische Angriffskrieg dominiert – neben Klimathemen – den politischen | |
| Bücherherbst, es erscheinen dieser Tage eine ganze Reihe von Tagebüchern | |
| und Journalveröffentlichungen von ukrainischen Autor:innen oder | |
| russischen Dissident:innen. Die gesammelten Texte von Arkadi Babtschenko | |
| sind in seinem Tagebuch „Im Rausch. Russlands Krieg“ (das schon 2014 | |
| einsetzt) nachzulesen, Serhij Zhadans Facebook-Posts und -Fotos erscheinen | |
| dieser Tage gedruckt („Der Himmel über Charkiw“), und Oksana Sabuschkos | |
| historischer Essay wurde kürzlich unter dem Titel „Die letzte Buchtour“ | |
| veröffentlicht. | |
| Sie alle sind prominente Stimmen. Babtschenko war Journalist der [6][Nowaja | |
| Gaseta] und hat mehrere Bücher über das Kriegsgeschehen und -erleben | |
| geschrieben. Der einstige Frontsoldat ging 2017 ins Exil, zunächst nach | |
| Prag, dann nach Kiew, wo er auch heute noch lebt. Oksana Sabuschko ist mit | |
| dem Buch „Feldstudien über ukrainischen Sex“ (2007) bekannt geworden und | |
| hat sich bereits in vorherigen Büchern mit dem ukrainisch-russischen | |
| Verhältnis auseinandergesetzt. Serhij Zhadan, [7][diesjähriger Träger des | |
| Friedenspreises des Deutschen Buchhandels,] hat als Autor in Deutschland | |
| schon lange viele Fans, schrieb Bücher wie „Depeche Mode“ (2007) und „Hy… | |
| der demokratischen Jugend“ (2011). | |
| Das anfängliche Suchen nach einer Sprache für den russischen Terror | |
| verbindet diese drei Bücher, andere Parallelen sind die Wut und die | |
| Polemik. Dennoch finden alle drei zu einer sehr unterschiedlichen | |
| Erzählweise: Babtschenko flucht und tobt in seinen Notizen, klagt das | |
| russische Regime an. Sabuschko erklärt, wie der Ukraine ihre Identität, | |
| ihre Sprache, ihre Kultur abgesprochen wurde, Serhij Zhadan führt fast eine | |
| Art Aktivistentagebuch. | |
| Geschichtlich lernt man am meisten bei Sabuschko, die Autorin erzählt von | |
| den Kontinuitäten zwischen dem Stalin- und dem Putinstaat, sie zeigt auf, | |
| wie die heutige russische Taktik eins zu eins in KGB-Handbüchern aus den | |
| 1960er Jahren nachzulesen ist. Über die russische Gesellschaft schreibt | |
| sie, dass „Russland nie einen ‚dritten Stand‘ freier Bürger hatte, währ… | |
| die Ukraine die Selbstverwaltung ihrer Städte bis ins 19. Jahrhundert | |
| verteidigte, selbst als sie Teil des Russischen Reiches war“. In der | |
| postsowjetischen Ukraine habe sich eine Zivilgesellschaft gebildet, die | |
| sich jetzt eben als so widerständig und widerstandsfähig erweise. | |
| Über die Kultur und das Selbstbild Russlands spottet Sabuschko: Zu keinem | |
| Zeitpunkt habe es sich dabei um eine eigene Kultur gehandelt, die | |
| Identitätsformel zu Zeiten des Russischen Reiches sei „Orthodoxie, | |
| Autokratie, Volk“ gewesen (im Gegensatz zum französischen „liberté, | |
| egalité, fraternité“). Interessant auch Anekdoten am Rand wie jene, dass | |
| Sabuschko 2014 bei einer Veranstaltung in Berlin Putin mit Hitler verglich | |
| und ihr daraufhin das Mikrofon abgedreht wurde. | |
| ## Zynisch, vulgär, zornerfüllt | |
| Wo Sabuschko spottet, auch über den Westen, da ist Babtschenko eher | |
| zynisch, vulgär, zornerfüllt. Der Titel „Im Rausch“ ergibt auch deshalb | |
| Sinn, weil sich der Autor zum Teil rauschhaft in den Wahnsinn schreibt, zu | |
| den Ereignissen von Butscha hält er fest: „Gerüchte, ich sei unter den | |
| Toten von Butscha. Wie soll man über so ein Gemetzel keine Witze machen. | |
| A-ha-ha, ein halbes Tausend Menschen an den Brunnen zusammengeschossen, | |
| köstlich! Lasst uns mal ordentlich ablachen.“ | |
| Es gibt mehrere dieser Passagen, an denen deutlich wird, dass für ihn jede | |
| berichtende, nüchterne Sprache versagen muss im Angesicht der Barbarei. Er | |
| hält die heutige russische Gesellschaft für rückständig, kaum reformierbar, | |
| größtenteils gehirngewaschen: „Ein ganzes Land voll aggressiver, grausamer, | |
| zurückgebliebener Minderjähriger. Ein Land, in dem die Penner die | |
| herrschende Klasse sind. Wladi hat’s geschafft. Das muss man sagen.“ Bei | |
| ihm geht das bis hin zu Vernichtungsfantasien gegenüber Russland, manchmal | |
| schießt er über das Ziel hinaus. Am eindrücklichsten ist es vielleicht, | |
| wenn er aus sehr persönlicher Perspektive erzählt, etwa aus der Sicht des | |
| jungen Soldaten, der Grosny gesehen hat. | |
| Das Verhältnis von Sprache und Krieg bestimmt diese Texte. Serhij Zhadan | |
| erklärt in dem Epilog seines Buch sehr treffend, warum das literarische | |
| Erzählen für ihn (noch) nicht möglich ist: „Schon nach den ersten | |
| Bombardierungen von Wohngebieten erscheinen dir Metaphern zweifelhaft. | |
| Genauso ethisch zweifelhaft erscheint dir die Literarisierung der | |
| Wirklichkeit, die Verwandlung von Realität in Literatur, die Suche nach | |
| Bildern und Vergleichen, die Verwendung von Blut und Fleisch als | |
| literarischem Material.“ | |
| ## Subjektive Skizzen des Krieges | |
| All die Texte, die gerade zum Glück auch in gedruckter Form erscheinen, | |
| könnten nebeneinandergelegt ein Werk wie Walter Kempowskis „Echolot“ | |
| ergeben. Sie erzählen oft subjektiv, unmittelbar, ungefiltert. Es sind | |
| Skizzen des Krieges. Das Bild komplettiert sich, wenn man historische und | |
| wissenschaftliche Bücher parallel liest, von dem [8][in Harvard lehrenden | |
| Ukrainekenner Serhii Plokhy] ist kürzlich etwa „Das Tor Europas. Die | |
| Geschichte der Ukraine“ neu erschienen, während er in „Die Frontlinie“ | |
| erklärt, warum es fast zwangsläufig so kommen musste, dass die Ukraine so | |
| tragisch ins Zentrum des Weltgeschehens rückt. | |
| Nicht weniger als der Erhalt der Zivilisation steht auf dem Spiel. Wie | |
| schreibt Oksana Sabuschko so richtig? „Wenn wir uns jetzt, nach acht Jahren | |
| Schwebezustand zwischen den Epochen, der inzwischen globale Maßstäbe | |
| annimmt, nicht als ganze Menschheit, als Spezies auf dieses andere Niveau | |
| erheben, sondern uns nach unten ziehen lassen, in den von Russland | |
| angebotenen vormodernen Absolutismus mit seiner postmodernen | |
| technologischen Entourage, die die schlimmsten Hollywood-Dystopien | |
| Wirklichkeit werden lassen, ist es vorbei.“ Mit diesen Sätzen dürfte sie | |
| den Welt- und Zeitgeist unserer Tage gut erfasst haben. | |
| 18 Oct 2022 | |
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| Jens Uthoff | |
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