Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Friedenspreis für Ukrainer Serhij Zhadan: Der Fehler des falschen …
> Serhij Zhadan erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er ist
> ukrainischer Hoffnungsträger und Demokratieverteidiger.
Bild: Serhij Zhadan besucht im Mai ein Krankenhaus in Charkiw
Als sich Serhij Zhadan nach seiner Dankesrede unter lang anhaltendem
Applaus mehrfach leicht nach vorne beugt und irgendwann selbst beginnt zu
applaudieren, entsteht ein Moment, in dem seine Worte sich zu setzen
scheinen im Publikum, jedenfalls hofft man das.
Ein Moment, in dem sich die Zuhörer:innen vielleicht ihrer eigenen
„Komfortzone“ (wie Zhadan sie nennt) bewusst werden, aus der heraus sie auf
jemanden wie ihn – den Bürger Charkiws, den Aktivisten, den Armeehelfer,
den Kämpfer für das offene und freie Wort – blicken. Ein Moment, in dem sie
hoffentlich auch Zhadans Befremden über manche europäische Intellektuelle
reflektieren, seine anhaltenden Zweifel, dass die Ukraine und die
Ukrainer:innen im westlichen Europa wirklich verstanden werden.
Warum sonst müsste er am 241. Tag des russischen Angriffskriegs immer noch
darauf hinweisen, dass „manche Europäer den Ukrainern ihre Weigerung, sich
zu ergeben, fast schon als Ausdruck von Militarismus und Radikalismus
anlasten“?
## Repräsentant der ukrainischen Zivilgesellschaft
Als Serhij Zhadan an diesem Sonntagmittag in der Frankfurter Paulskirche
den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 überreicht bekommt, wird
ein Hoffnungsträger, ein Demokratieverteidiger, ein herausragender
Repräsentant der ukrainischen Zivilgesellschaft ausgezeichnet. Der im
Oblast Luhansk geborene [1][Autor und Musiker Zhadan] hat schon in den
Romanen „Depeche Mode“ (2004) und „Die Erfindung des Jazz im Donbass“
(2012) wortgewaltig die wilde, raue, kulturreiche Ostukraine beschrieben.
In diesen Tagen erscheint sein Kriegstagebuch „Himmel über Charkiw“. Zhadan
ist zu einem Gesicht dieses Krieges geworden – er lebt weiterhin in
Charkiw, gibt an der Front und in der Metro Konzerte mit seiner Band Zhadan
I Sobaky, liefert Hilfsgüter an die Front.
Der Friedenspreis wurde 1950 ins Leben gerufen, um jene zu würdigen, „die
sich mit Wort und Tat dem entgegenstellen, was den Frieden, die
Verständigung und die Gleichberechtigung unter den Völkern gefährdet“.
Zhadan verkörpert dies aktuell wie kaum jemand anders. In ihrer Laudatio
(siehe den Text Seite 15/16) rückt die Berliner [2][Schriftstellerin Sasha
Marianna Salzmann] unter anderem die Haltung Zhadans in den Fokus: die
„Haltung des Dialogs“, die „humanistische Haltung“, nie blicke er aus
„Vogelperspektive“ auf seine Figuren.
## Verlust der „alten“ Sprache
Auch die Dankesrede, die Zhadan hält, ist bemerkenswert. Der 48-Jährige,
gekleidet in ein graues Jackett, darunter einen braunen Rollkragenpullover,
spricht über den Verlust der „alten“ Sprache nach dem 24. Februar 2022.
„Die Unmöglichkeit, frei zu atmen und leicht zu sprechen, das ist es, was
die Wirklichkeit des Krieges fundamental von der Wirklichkeit des Friedens
unterscheidet“, sagt er, und weiter: „Doch sprechen muss man. Selbst in
Zeiten des Krieges. Gerade in Zeiten des Krieges. […] Seit Kriegsbeginn
holen wir uns diese beschädigte Fähigkeit zurück, die Fähigkeit, sich
verständlich zu machen.“
Zu dieser Sprache hat Zhadan bereits (zurück-)gefunden. Über Krieg,
Grausamkeit, Niedertracht kann man nur konkret sprechen, legt er nahe. So
berichtet er einleitend von seinen Erfahrungen als Freiwilliger, der Geräte
und Hilfsgüter an die Front liefert. Im beschriebenen Fall braucht das
Bataillon einen Kühlwagen für die Leichen. „Wir finden Leichen, die schon
länger als einen Monat in der Sonne gelegen haben. Wir schaffen sie mit
einem Kleinbus weg, da kriegst du keine Luft mehr“, sagt ihm der Soldat.
## Unangenehme Fragen offen angesprochen
Der Krieg sei aber auch „die Zeit unangenehmer Fragen“, auch diese spricht
Zhadan offen an. Will die Weltgemeinschaft, will Europa „um fragwürdiger
materieller Vorteile und eines falschen Pazifismus willen ein weiteres Mal
das totale, enthemmte Böse […] schlucken?“, fragt er.
[3][Er benennt diesen falschen Pazifismus, er benennt auch die eklatanten
und tödlichen Fehler jüngerer Vergangenheit in Deutschland und Westeuropa]:
„Vielleicht müssten die Europäer weniger Geld für Energieträger ausgeben,
wenn die Ukrainer kapitulierten, aber wie würden sich die Menschen in
Europa fühlen, wenn sie sich bewusst machten, dass sie ihr warmes Zuhause
mit vernichteten Existenzen und zerstörten Häusern von Menschen erkauft
haben […]?“
Zhadans Rede, das merkt man, ist auch eine Reaktion darauf, was
Ukrainer:innen (wie ihm) beschämenderweise noch immer im Westen begegnet
– etwa das Unverständnis darüber, dass sie mit einer Sprache des Hasses auf
alles Russische reagierten. „Die Ukrainer müssen sich nicht für ihre
Emotionen rechtfertigen, aber sicher wäre es gut, diese Emotionen zu
erklären. Warum? Schon allein deshalb, damit sie den Zorn und den Schmerz
nicht länger allein bewältigen müssen“, stellt er dazu fest.
Zhadan bleibt ein genauer Beobachter, ein Humanist durch und durch, auch
das lässt sich seiner Rede entnehmen. Die Augen der Ukrainer sähen so
anders aus heute, stellt er fest. In den Augen der Soldaten könne er die
Hölle erblicken. Und doch, auch in Kriegszeiten, in denen es kein gleich
und morgen und danach und später, sondern nur den Augenblick gibt, weiß er,
sind wir alle „zur Zukunft verdammt“.
Er leitet daraus eine Verantwortung ab. Die Verantwortung, eine neue
Zukunft zu denken und zu gestalten. Zuletzt hat er oft betont, die
Ukrainer:innen und die ukrainischen Schriftsteller:innen müssten
noch überzeugender werden, mit der Sprache, in der Sprache. Ihm ist das an
diesem Sonntag in Frankfurt am Main zweifelsohne gelungen.
24 Oct 2022
## LINKS
[1] /Friedenspreistraeger-Serhij-Zhadan/!5885502
[2] /Neuer-Roman-von-Sasha-Marianna-Salzmann/!5802720
[3] /Karl-Markus-Gauss-ueber-Ukrainekrieg/!5846831
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Literatur
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Buch
Buch
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Theater zeigt Zhadan's Donbass-Roman: Heimatabend in Blau-Gelb
Fürs Theater Bremen befreit Armin Petras Serhij Zhadans Roman
„Vorošilovhrad“ von Sex und Suff. Übrig bleibt ein jugendfreier
Bilderbogen.
Die Band Zhadan I Sobaky in Berlin: Hymnen für die ukrainische Jugend
Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan und seine Band Zhadan I Sobaky
traten in Berlin auf. Sie eröffneten das Festival "Performing Exiles".
Menschen auf der Frankfurter Buchmesse: Die Kulturnation ist überall
Braucht es die Frankfurter Buchmesse? Aber ja. Denn überall lauert eine
Überraschung. Und nur dort trifft man Menschen, die man noch nicht kennt.
Frankfurter Buchmesse und die Ukraine: Hoffen auf den Sturz Putins
Wie geht Literatur in Zeiten des Krieges? Russische Dissidenten und
ukrainische Schriftsteller sprechen auf der Frankfurter Buchmesse.
Die ukrainische Literaturszene: Das Wort für Krieg
Zwischen Verzweiflung und Kampfeswillen: Die ukrainische Literaturszene
sucht nach einer Sprache, um Unbeschreibliches auszudrücken.
Friedenspreisträger Serhij Zhadan: Der Preis der Freiheit
Der Ukrainer Serhij Zhadan ist nicht nur Schriftsteller. Er ist auch
Musiker, unterstützt die Armee, trommelt für Spenden und träumt vom Ende
des Kriegs.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.