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# taz.de -- Theater zeigt Zhadan's Donbass-Roman: Heimatabend in Blau-Gelb
> Fürs Theater Bremen befreit Armin Petras Serhij Zhadans Roman
> „Vorošilovhrad“ von Sex und Suff. Übrig bleibt ein jugendfreier
> Bilderbogen.
Bild: Obsessiv gräbt Ernst (Timos Papadopoulos) nach alten deutschen Panzern. …
Vielleicht hätte sich Armin Petras über den dusseligen deutschen Titel
hinwegsetzen sollen. Vielleicht, nein, wahrscheinlich hätte der Regisseur
und Dramatiker für seine Bühnenfassung dann einen besseren, also
entschiedeneren und vielleicht auch nachdenklicheren, kurz: intelligenteren
Zugriff auf [1][Serhij Zhadans] 2010 erschienenen Roman „Vorošilovhrad“
(Ворошиловград) gefunden; so heißt das Buch im ukrainischen Origi…
auch in englischer Übersetzung.
In Italien und Frankreich hat man das Buch, weil der Ortsname so unbekannt
und unaussprechlich ist, mit [2][schlauer Western-Referenz], sinngemäß als
„Der Weg ins Donbass“ in die Läden gebracht. Und weil der alte sowjetische
Name der Stadt Lu’hansk dem Zielpublikum in den Ohren schmerzt, seit
russlandtreue Truppen dort 2014 den Krieg eröffnet haben, hat Yaroslav
Lodygin seine Verfilmung 2018, [3][historisch versiert,] „The Wild Fields“
genannt. All diesen Alternativtiteln gemein ist, dass sie die Nähe suchen
zu Zhadans Poetik des Raums. Sie ermöglichen deren
historisch-geopolitischen Subtext wahrzunehmen, mit ihm zu spielen, den
darin verborgenen Schrecken zu vergegenwärtigen.
Die Suhrkamp-Benamsung hingegen verdrängt das zugunsten einer zauberhaften
Mystifikation, einer natürlich frei erfundenen Ursprungserzählung des Jazz.
Stört im Buch nicht groß. Steht aber als vermeintlicher Zielpunkt nun der
Bühnenfassung die ganze Zeit im Weg, um dann am Ende auch noch brav
aufgesagt zu werden (Dramaturgie: Klaus Missbach). Weil obendrein auch der
massive Alkoholkonsum, der betäubende Sex sowie Zhadans an Charles Bukowski
geschulte fäkalfreudige Kunstsprache wegfallen, erlebt das Bremer Publikum
pünktlich zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine eine von
Norman Plathe-Narr eindrucksvoll blau-gelb ausgeleuchtete, komplett
jugendfreie Produktion.
## Kämpfe um eine Potemkinsche Tankstelle
Die Bühne hat Peta Schickart mit Holzgebäudefronten möbliert. Auch sie
erstrahlen, feinziseliert, [4][wie Scherenschnitte für einen
Lotte-Reiniger-Trickfilm], in satter Sonnenfarbe: Selbstverständlich sind
es nur Fassaden, so wie eine Benzinstation im Zentrum von Stück, Bühne und
Buch steht, bei der nie jemand je Sprit zapft, weil es auch gar keinen
gibt: Willkommen im postsowjetischen Donbass der 1990er. Diese
[5][potemkinsche Tankstelle] in der amorphen Steppe kann man getrost als
Allegorie der Ukraine lesen. Sie ist, obschon völlig unrentabel, Objekt der
Begierde kleptokratischer Maiskönige: Die schrecken vor nichts zurück, am
wenigsten vor Gewalt.
Gerüchteweise ist der Tankstellen-Inhaber in den Westen gegangen,
vielleicht nach Amsterdam. Eventuell hat ihn aber auch jemand um die Ecke
gebracht, egal. Sein Bruder Herman – zwischendurch wird er wegen des Namens
für einen Deutschen gehalten – reist wegen des Verschwindens in seinen
Heimatort. Warum er dort bleibt und sich immer tiefer in diese Kämpfe ohne
Sinn und Profit verwickeln lässt, statt einfach wieder in seine befriedete
Existenz in der korrupten Verwaltung der Provinzhauptstadt Charkiw
zurückzukehren: Diese Frage wird sich dieser Held nicht stellen.
Den von Anette Riedel für diese Rolle entworfenen konfirmandenengen Anzug
füllt Ferdinand Lehmann mit charmanter Einfalt; ein ukrainischer
Neo-Parzival, der sich von den Maiskönigen nicht zum Gral des Geldes
verlocken lässt, sondern einfach drauflos sucht, ohne zu wissen, was. Und
um auch nichts zu finden.
Das ist auch schon die Handlung. Sie dient im Roman einerseits als Vorwand,
schwelgerische Landschaftsbilder zu entwerfen, deren Metaphernfreude
mitunter kitschig, sehr oft aber visionär wirkt. Etwa wenn die Häuser
dunkel da stehen, „als wären sie mit schwarzer Farbe gefüllt“. Oder sich
die Leere als gefräßiges Monster Richtung Russland ausbreitet und alles
schluckt „das Wasser und das Grün, das lichtdurchflutete Gras“, die ganze
Welt: Seen, Himmel, Gasfelder.
## Frauenfiguren bleiben blass
Für die lässt das patriotische Blau-Gelb-Setting im Bremer Großen Haus nun
wirklich keinen Platz mehr. Andererseits ermöglicht der Nicht-Plot einen
Reigen kurioser Figuren, manischer Typen und fabulierter Anekdoten. Doch
als kurz angetippte Bühnenfiguren berühren sie kaum, bestenfalls sind sie
lustig, wie Ernst, der sich Thälmann nennen lässt: In der ganzen Gegend
buddelt er nach verschollenen deutschen Panzern aus den beiden Weltkriegen;
Timos Papadopoulos übersetzt diese Obsession in eine vergnüglich spillerige
Besessenheit.
Vor allem die Frauenfiguren aber bleiben in Petras’ Regie fast schon
erschreckend blass. Am meisten Tiefe gelingt der schön struppig
verwahrlosten Lisa Guth in der Rolle [6][der altersdementen Hündin
Pachmutowa]. Später, zu Beginn des zweiten Teils, wird sie von Unbekannten
gekreuzigt; malerisch hängt sie an der Windmühle, die als pikareskes Signal
mal rechts, mal links im Hintergrund ragt. Die Hundemörder? Vermutlich
waren’s Handlanger der Oligarchen.
Übrig bleiben angetippte Episoden. Es kommt zu einer Tanklaster-Explosion
mit viel Nebel. Der Rest wird mehr behauptet, teilweise durch routinierte
schwarz-weiß-Videos von Maria Tomoiagă eingespielt, auch wird hübsch
musiziert, alles sehr nett anzuschauen – ein ukrainischer Heimatabend. Das
ist in seiner wohltuend solidarischen Grundierung nichts Böses, wirkt aber
in seiner klischierten Nostalgie und fröhlichen Belanglosigkeit dann doch
unangemessen.
28 Feb 2024
## LINKS
[1] /Friedenspreis-des-Deutschen-Buchhandels/!5889959
[2] https://fr.wikipedia.org/wiki/La_Route_de_l'Ouest_(film)
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Wild_Fields
[4] https://www.kulturstiftung.de/silhouetten-im-schatten/
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Potemkinsches_Dorf
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Alexandra_Nikolajewna_Pachmutowa
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
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