# taz.de -- Historiker über Geschichte der Ukraine: „Imperiale Politik wird … | |
> Der Historiker Serhii Plokhy schreibt über die dramatische Vergangenheit | |
> der Ukraine. Ein Gespräch über Kampfgeist, historische Fehler und die | |
> Zukunft. | |
Bild: Ukraine-Aufsticker in der Altstadt von Kiew im Juni 2022 | |
taz: Herr Plokhy, Sie sind in Saporischschja aufgewachsen, einem Ort, auf | |
den derzeit die ganze Welt schaut. Haben Sie dort Verwandte und Freunde, | |
die Ihnen von dort etwas berichten? | |
Serhii Plokhy: Ja, meine erweiterte Familie lebt dort, etwa 50 Kilometer | |
vom Atomkraftwerk entfernt. Anders als beim Kernkraftwerk ist die Stadt | |
Saporischschja unter ukrainischer Kontrolle. Auf die Stadt gibt es oft | |
Raketenangriffe, meine Verwandten können nur hoffen, dass die Situation | |
sich verbessert. Die größere Bedrohung ist natürlich das Atomkraftwerk, das | |
größte in Europa. | |
Lange wurde das viel zu wenig thematisiert, doch schon am ersten Tag des | |
russischen Angriffskriegs haben die Russen das ehemalige Kernkraftwerk | |
Tschernobyl eingenommen, und der Krieg wurde nuklear. Zur aktuellen Debatte | |
über die Atomkraft sage ich: Wir können keine neuen Kernkraftwerke bauen, | |
bevor wir nicht wissen, wie wir die bestehenden unter den Bedingungen des | |
Kriegs schützen können. So einfach ist das. | |
Sie erzählen in Ihrem neuen Buch „Das Tor Europas“ von den lang anhaltenden | |
instabilen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland und von den | |
Unabhängigkeitsbestrebungen der Ruthenen und Kosaken in früheren | |
Jahrhunderten. Wiederholt sich Geschichte gerade? | |
Es gibt den berühmten Satz: „Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie | |
reimt sich.“ Mir fallen viele Reime auf. [1][Auf dem Territorium der | |
Ukraine] befanden sich in der Geschichte häufig kulturell-weltanschauliche | |
Grenzen, eine wichtige war die zwischen östlichem und westlichem | |
Christentum. | |
Die Ukraine lag zudem am Rande großer Imperien wie dem Mongolischen Reich | |
und dem Russischen Reich, an der Schwelle zu Mitteleuropa. Und im 20. | |
Jahrhundert war es so: In der Zwischenkriegszeit wurde die Ukraine auf vier | |
verschiedene Länder aufgeteilt. Die Nationalitätenfrage blieb also | |
ungelöst. Bis zu einem gewissen Grad dauert dieser Zustand bis heute an. | |
Sie beziehen sich auf Samuel P. Huntingtons „Clash of Civilizations“ | |
(1996), der eine Linie durch das Gebiet der Ukraine zog. Huntingtons | |
Grundthese war ja eher ein Zusammenprall von muslimischer und westlicher | |
Welt. Geht es nicht heute um Autokratie versus Demokratie? | |
Ich sage, dass die Linie in Huntingtons Buch falsch gezogen ist, weil die | |
Grenze zwischen der katholischen und der orthodoxen Ukraine darin nicht | |
aufgeht. Diese Linie ist mehr oder weniger die, die auch Putin zieht, in | |
dem Sinne wäre er Huntingtonianer, denn er hat ja nie wirklich einen | |
Anspruch auf die Westukraine erhoben. Aber Sie fragten nach dem Krieg | |
zwischen Demokratie und Autokratie: Wenn wir in die jüngere Geschichte | |
blicken, sind die Versuche, ein autoritäres Regime in der Ukraine zu | |
installieren, gescheitert, beide endeten mit Maidan-Protesten – 2004 und | |
2013. | |
Eine demokratische Ukraine stellt eine Bedrohung für das russische Regime | |
dar: Wenn immer wieder darauf verwiesen wird, Russen und Ukrainer seien ein | |
und dasselbe Volk und in der Ukraine ist nun die Demokratie erfolgreich, | |
dann macht das sicherlich denjenigen in Russland Mut, die sich vom | |
autoritären Regime lossagen wollen. | |
Sie erzählen auch von der Widerstandskraft der Ukrainer in der Geschichte, | |
etwa bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1939, als sich die Ukrainer | |
den Ungarn widersetzen. | |
Die einzige Gruppe, die Widerstand leistete, waren die Ukrainer! Alle | |
anderen sagten: Okay, wir haben verstanden. Die Ukrainer haben kurze Zeit | |
gekämpft, aber sie haben gekämpft. Und bereits in der Zeit des Russischen | |
Reichs hatte die Ukraine die größte Bauernarmee. Nach dem Zweiten Weltkrieg | |
wiederum kämpften 40.000 Menschen gegen Stalin, der nationalistische | |
Widerstand in der Westukraine war der größte antisowjetische Widerstand, | |
den es gab. | |
Waren Sie also vom jetzigen Widerstand der Ukrainer nicht überrascht? | |
Ich hatte keinen Zweifel, dass es Partisanen geben würde. Aber ich war mir | |
nicht so sicher, wie gut die Ukrainer in der Lage sein würden, als Teil der | |
staatlichen Armee zu kämpfen. Denn der Staat wurde im Laufe der | |
Jahrhunderte nie als Institution angesehen, die dich schützt. Die | |
vergangenen Monate haben gezeigt, dass die Ukrainer ihren Staat und ihre | |
Streitkräfte voll und ganz akzeptieren. | |
Sind die größten Fehler des Westens nach 2014 gemacht worden oder bereits | |
zuvor? | |
Das Budapester Memorandum von 1994 war ein großer Fehler. Damals wurde | |
beschlossen, Atomwaffen aus der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan zu | |
beseitigen. Es gab gute Gründe dafür. Doch der Gedanke dahinter war, es sei | |
besser, wenn sie unter russischer Kontrolle wären. Dies geschah zu einem | |
Zeitpunkt, als Russland bereits Ansprüche auf die Krim erhob. In der Folge | |
entstand ein riesiges Sicherheitsvakuum in Mitteleuropa – den Preis zahlen | |
jetzt die Ukrainer. | |
Deutschland dagegen versuchte Russland in jüngerer Zeit mithilfe von | |
Handelsbeziehungen zu befrieden – die Idee von „Wandel durch Handel“ ist | |
jedoch im 20. Jahrhundert mehr als einmal gescheitert. Wie so oft zuvor | |
spielten auch bei den Gasgeschäften falsche Hoffnungen, magisches Denken | |
und private Interessen von Einzelpersonen und Unternehmen eine Rolle. | |
Sie befassen sich in Ihrem Buch auch mit ukrainischer Literatur. Aus | |
früheren Jahrhunderten sind viele große ukrainische Autoren weltweit wenig | |
bekannt, von Taras Schewtschenko abgesehen, heute sind ukrainische Autoren | |
wie Serhii Zhadan populär im Westen. Erklärt das die größere Nähe zwischen | |
dem Westen und der Ukraine? | |
Es ist eine traurige Ironie, dass die immer noch existierende Kluft | |
zwischen dem Westen und der Ukraine nun durch den Krieg verkleinert wird. | |
Es gibt einen politisch nicht gerade korrekten Witz in den USA: „War is | |
God’s way of teaching Americans geography.“ In dem Fall passt er nicht | |
ganz, denn das politisch-historische Wissen über die Ukraine ist in den USA | |
höher als in Deutschland. Hier wird mehr ukrainische Geschichte gelehrt und | |
studiert, aber was Übersetzungen der ukrainischen Literatur betrifft, war | |
Deutschland führend. Doch jetzt gibt es auch mehr Interesse an ukrainischer | |
Literatur in den USA und umgekehrt an ukrainischer Geschichte und Politik | |
in Deutschland. | |
Zwischen Russland und der Ukraine herrschte in der Geschichte oft ein Krieg | |
der Sprachen. | |
Auch da kommt mir ein Spruch in den Sinn: „Eine Sprache ist ein Dialekt mit | |
einer Armee und einer Marine.“ Die ukrainische Sprache wurde eben oft | |
nicht als Sprache, sondern als Dialekt betrachtet. Die | |
russisch-kaiserlichen Behörden versuchten im 19. Jahrhundert, die | |
Entwicklung der ukrainischen Sprache aufzuhalten, indem sie | |
ukrainischsprachige Publikationen verboten. Ironischerweise zwangen sie die | |
Ukrainer im Osten, sich der Westukraine zuzuwenden, die unter | |
österreichisch-ungarischer Herrschaft stand. Was taten also die | |
ukrainischen Schriftsteller aus dem östlichen und zentralen Teil der | |
Ukraine? Sie veröffentlichten in Lwiw, in Galizien. Und schufen einen | |
gemeinsamen kulturellen Raum, den es sonst so nicht gegeben hätte. | |
Umstritten ist das Verhältnis der ukrainischen Gesellschaft zum einstigen | |
Nationalistenführer Stepan Bandera. Für wie gefährlich halten Sie den | |
Bandera-Kult? | |
Ich sehe zum jetzigen Zeitpunkt nicht, dass die ukrainische Gesellschaft | |
die Art von ethnozentrischem oder integralem Nationalismus annimmt, die | |
mit Bandera und der Organisation Ukrainischer Nationalisten in Verbindung | |
gebracht wird. Nach Kriegsbeginn 2014 haben die Rechtsextremen und | |
Nationalisten nicht genug Unterstützung bekommen, um ins Parlament | |
einzuziehen. Die populärste von ihnen, Swoboda, hat es 2014 nicht ins | |
Parlament geschafft, blieb unter 5 Prozent. Man sollte sich eher fragen, | |
warum die Nationalisten in Frankreich, Italien oder England so stark und in | |
der Ukraine so schwach sind. | |
Was erwarten Sie für die nächsten Monate oder Jahre in der Ukraine und in | |
geopolitischer Hinsicht? | |
Der Krieg Russlands steht für den Versuch ehemaliger imperialer Mächte, | |
ihre Ambitionen im postimperialen Raum aufrechtzuerhalten – am Ende wird | |
diese imperiale Politik scheitern, wie sie so oft in den vergangenen 60 | |
oder 70 Jahren gescheitert ist. Zugleich sehen wir ein wiedererstarktes | |
transatlantisches Bündnis und auch viel mehr Einheit innerhalb Europas. Und | |
wir sehen den unvermeidlichen Vorstoß Russlands in Richtung China. In | |
gewisser Weise wiederholt sich das Bündnis Peking–Moskau aus den 1950er | |
Jahren – nur akzeptieren wir, dass China und nicht Russland jetzt am Ruder | |
ist. | |
26 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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