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# taz.de -- Reportagen aus dem Donbass: Dokumente des vergessenen Krieges
> Das Buch „In Isolation“ des ukrainischen Autors Stanislaw Assejew
> versammelt dessen Reportagen aus dem Donbass von 2015 bis 2017.
Bild: Ein Mann mit Kind steht an einer Barrikade vor der Regionalverwaltung in …
Berlin taz | Er hasse „das Gekicher in den Korridoren der Zeit“, hat
Vladimir Nabokov postuliert, vielleicht weil ihn das Aufspüren unangenehmer
historischer Fakten neben dem Entfachen der schriftstellerischen Fantasie
zusätzlich belastete. 1917 war Nabokov vor der Oktoberrevolution nach
Deutschland geflohen. Aus Berlin musste er 1936 vor den Nazis erneut
fliehen. Zeitläufte machen weder vor Biografien halt noch vor Städtenamen.
Ursprünglich hieß die ostukrainische Industriestadt Donezk Jusowka, nach
dem britischen Industriellen John Hughes, der sie 1869 gegründet hatte.
1924 wurde es zu Ehren von Josef Stalin in Stalino umbenannt, einen Namen,
den es bis 1961 behielt. Heute ist Donezk größte Stadt inmitten eines
Industriegebiets, genannt Donezkij ugolnyj bassejn, kurz Donbass, und liegt
in der Ukraine.
In einem Donezker Vorort, der Trabantenstadt Makijiwka, wurde der
Journalist, studierte Philosoph und Religionswissenschaftler Stanislaw
Assejew 1989 geboren. Dorthin ist er 2013 nach Aufenthalten in Kiew und
Frankreich wieder zurückgekehrt, um über [1][den Krieg im Donbass] zu
berichten, der nach Ausrufung der sogenannten „Volksrepublik“ Donezk durch
russische Separatisten begann und vom Westen weitgehend ignoriert wurde,
aber auch in der Ukraine selbst verdrängt wurde.
## Verschleppt von Separatisten
Der ukrainische Autor hat über den Kriegsalltag Radiobeiträge und Texte
verfasst, bevor er im Sommer 2017 spurlos verschwand. Später kam heraus,
dass ihn Separatisten entführt hatten. Er wurde zu 15 Jahren Haft
verurteilt und in ein illegales Lager verschleppt, was im Kulturzentrum
„Isolazija“ in Donezk errichtet worden war. Dort wurde er Zeuge von Folter.
Assejew kam im Dezember 2019 bei einem Gefangenenaustausch frei. Vor
einiger Zeit sind Assejews gesammelte Texte aus den Jahren 2015–2017 auf
Deutsch erschienen und man muss sie nun, wo Russland das Nachbarland
Ukraine brutal überfallen hat, dringend lesen, um zu verstehen, wie es zu
dieser Barbarei kommen konnte. „Isolation“, schreibt Assejew im Vorwort,
„ist ein Gefühl, das sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht“.
Wie viele Bürger:Innen sei auch er „zu einem Schatten in der eigenen
Stadt geworden“, erklärt Assejew. Karg und nackt wie eine Glühbirne ist
sein Stil, unbarmherzig beschreibt er die Drastik der Granateinschläge und
die Lähmung des Alltags, die damit einhergeht.
Er berichtet von Kampfhandlungen, von der Notaufnahme eines Krankenhauses
und der Militarisierung. Mit Kindheitsfreunden habe er noch Pläne für den
Sommerurlaub in Jalta geschmiedet, nun laufen sie in „Wüsten-Tarnuniformen“
herum, mit Maschinengewehr über der Schulter und Messer im Gürtel und sehen
sich im Rückgriff auf die alte Kosakentradition als „Beschützer des
Volkes“.
## Wahlfälschung beim Referendum
In der Sichtweise Russlands wurde die Ukraine zur Spielweise
westeuropäischer und US-Interessen, „Kosmopoliten und Hippies“ verderben
die Sitten. Mit wenigen Absätzen erklärt Assejew, wie Wahlen zu einem
Referendum im Separatistengebiet abgehalten werden, er besucht zwei
Wahllokale, trägt sich zweimal in Listen ein und stimmt mehrmals ab,
niemand kontrolliert seinen Ausweis. Längst nicht alle Nachbarn von Assejew
fallen direkt auf die mediale Gehirnwäsche aus Moskau herein.
Manche Rentner:Innen wollen einfach ihre Ruhe haben, kassieren doppelt,
von den Separatisten und von ukrainischen Stellen, um ihre mickrigen Renten
aufzubessern. Auch Separatisten verdienen mit und verlangen von allen, die
die Checkpoints zwischen der „Volksrepublik“ und der Ukraine passieren,
„Zölle“. Ein mafiöses Clansystem regelt die Geschäfte.
In einer Reportage vergleicht Assejew Speisekarten und Preise von Clubs und
Restaurants einer schicken Ausgehmeile in Donezk, die direkt neben
zerbombten Wohnvierteln entstanden ist, um russischen Kriegsgewinnlern ein
Nightlife – im westlichen Stil – zu ermöglichen. Proletarier wiederum tun
so, als wäre Krieg einfach eine andere Form von Erwerbstätigkeit.
## Vermeintliche Stärke ist Angst
Assejew beobachtet, wie sich ein Bergarbeiter den Freischärlern
angeschlossen hat, nachdem er arbeitslos geworden ist. „Er sagt, er fühle
nur dann eine emotionale Erfüllung, wenn er mit einem Geschoss neben einem
Raketenwerfer stünde.“ Assejew deutet diese vermeintliche Stärke und den
Widerstandswillen gegen „das Regime in Kiew“ als Angst. Angst vor
Veränderungen.
Angst als praktische Dimension führt der Autor auf die Geschichte zurück:
„Die sogenannte Sowjetmentalität ist … nichts anderes als die
langanhaltende Gewohnheit, die Verantwortung zu delegieren, anstatt selber
zu entscheiden.“ Den Homo Sovieticus und seinen Identitätsverlust nach dem
Zerfall der Sowjetunion in den 1990ern skizziert Assejew ausführlich. „Wir
haben damals gesiegt und wir werden auch jetzt siegen“, steht auf einem
Wandgemälde, das den sowjetischen Kampf gegen die Nazis im Zweiten
Weltkrieg und den Krieg im Donbass in eins setzt.
Krieg als psychische Drangsal und permanenter Ausnahmezustand schildert
Assejew eindringlich. Nach Ende von Artilleriebeschuss bekommt er
Kopfschmerzen. Auf einer Anhöhe stehend blickt er auf das ausgestorbene
Donezk. „Vom Flughafen hört man vereinzelte Schüsse und ist allein.“
13 Mar 2022
## LINKS
[1] /Sergei-Loznitsa-ueber-seinen-Film-Donbass/!5529242
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Donbass
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Reportage
Separatismus
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Interview
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