# taz.de -- Ukrainischer Musiker Gurzhy über Krieg: „Andere Völker, gleiche… | |
> Der Berliner Musiker Yuriy Gurzhy über Künstlerkollegen mit Waffen, | |
> Gespenster der Sowjetunion und das Mantra von der Schlangeninsel. | |
Bild: Trotz alledem Optimist: Yuriy Gurzhy | |
taz: Yuriy Gurzhy, Sie sind 1975 in Charkiw geboren und erst in den | |
Neunzigern mit Ihrer Familie nach Deutschland übersiedelt. Warum? | |
Yuriy Gurzhy: Ich bin im Alter von 20 aus Charkiw weggegangen, und so kann | |
ich mich gut an die Stadt erinnern, ich war Heranwachsender, bevor ich von | |
dort ausgewandert bin. Die 1990er Jahre waren schwierig, nicht nur für die | |
Ukraine, für alle postsowjetischen Republiken war es ein schwieriger | |
Neuanfang. Meine Eltern hatten keine Arbeit mehr, meine Großeltern wurden | |
immer älter, es ging ihnen nicht gut. Wir sind Juden. Als sich damals die | |
Möglichkeit ergeben hatte, haben sich meine Eltern entschieden, nach | |
Deutschland zu gehen. Ich bin eher aus Abenteuerlust mitgegangen. | |
Russland und die Ukraine sind Nachbarn mit einer langen gemeinsamen | |
Geschichte. In vielen ukrainischen Regionen wird eine Mischsprache | |
gesprochen, halb ukrainisch, halb russisch. Die Feindschaft, die nach der | |
Annexion der Krim 2014 und der Ausrufung der Volksrepubliken in Russland | |
propagiert wurde, ist daher umso bizarrer. Das angebliche „sagenhafte neue | |
Russland“ hat der Westen zwar wahrgenommen, aber offensichtlich falsch | |
eingeschätzt. Was wussten Sie von dem Krieg im Donbass? | |
Ich war 2013 auf dem Maidan in Charkiw, mir kam es vor wie Woodstock. Dort | |
war die Atmosphäre sicher nicht so euphorisch wie in Kiew, aber genau | |
deswegen bin ich da länger geblieben, denn ich hatte das Gefühl, dort werde | |
ich mehr gebraucht. Am Anfang habe ich gedacht, es ist eine lokale | |
Protestbewegung, der es um alltägliche Widrigkeiten geht, um Korruption | |
etwa. | |
Als dann die Krim annektiert wurde, war das ein Schock. Auch die Geschichte | |
mit dem Donbass, denn schon damals waren die Kämpfe brutal. Ich habe das | |
immer so wahrgenommen, dass Russland sofort die Chance gesehen hat, | |
einzumarschieren, um sich vom Kuchen ein paar Stücke abzuschneiden. Wie | |
soll ich sagen, ich fand das uncool. | |
2016 haben Sie die Compilation „Borsh Division“ zusammengestellt. Musik von | |
16 Künstler:Innen aus der Ukraine: eine wilde Stilmischung zwischen | |
elektronischem Pop, Folkpunk, HipHop und Ska. In dem Song [1][„Gutsul | |
Electro“] des Künstlers OMFO ist eine Nähe etwa zu Rumänien zu hören. Ist | |
dieses vielfältige Bild charakteristisch für die ukrainische | |
Musiklandschaft? | |
Die Szene ist traditionell verbunden mit den Nachbarländern. Musikalisch | |
sowieso. Ich höre bei verschiedenen Völkern die gleichen Melodien, und das | |
ist in der Ukraine normal. Hochzeitsmusiker:Innen nennt man auf | |
Rumänisch Lautari, und auf Jiddisch nennt man sie Klezmorim. Auf allen | |
Hochzeiten werden die gleichen Melodien gespielt. Künstler sind voneinander | |
inspiriert und beklauen sich kreativ. Folklore klingt dadurch ähnlich, hat | |
aber trotzdem jeweils etwas Besonderes. | |
Die Songs stammen aus unterschiedlichen Gegenden in und außerhalb der | |
Ukraine. | |
Auch die Diaspora ist dabei. OMFO, der einen Karpatensong beigesteuert hat, | |
lebt seit Ende der 1980er in Amsterdam. Mariana Sadovska ist in Köln. Die | |
Musik lebt auch von dem Optimismus, der von der Maidan-Bewegung ausgegangen | |
war. Jene unglaubliche Solidarität, die die Ukraine in den Jahrzehnten | |
davor nicht, womöglich überhaupt noch nie, erlebt hatte. | |
Der Krieg im Donbass war nicht zu ignorieren. Angst, Melancholie, aber auch | |
Optimismus, diese gemischten Gefühle lassen sich aus der Musik schon | |
heraushören, Die deutsche Presse hat meine Zusammenstellung damals | |
weitgehend ignoriert, aus Angst vor ukrainischem Nationalismus. | |
In Prag wurde die Russische Straße von Aktivisten in „Russisches | |
Kriegsschiff, Fick dich“-Straße umbenannt. Der Satz geht auf die | |
Zollbeamten von der ukrainischen Schlangeninsel im Schwarzen Meer zurück, | |
die damit russische Soldaten empfangen haben, als sie gefangengenommen | |
werden sollten. Was kommen Ihnen da für Gedanken? | |
Wenn man versucht, etwas in Kürze auszudrücken, was einem am Herzen liegt, | |
ist das der perfekte Satz. Ein Mantra, an dem ich mich immer aufs Neue | |
erfreuen kann. Bei der Demo vergangenen Sonntag am Berliner Bebelplatz habe | |
ich diese Zeile spontan für einen vierminütigen Song verwendet. Es ist | |
inzwischen auch ein Meme im Netz. | |
Der Satz ist zwar auf Russisch, aber zugleich der ukrainischste Satz, den | |
es momentan gibt. Ein Freund aus England, der mit der Band Levellers | |
zusammenarbeitet, hat mich gebeten, für ihn einen Song zu texten, der auch | |
mit dem Satz spielt. Ich habe ihn auch bei Youtube eingegeben und zehn | |
Songs gefunden, die ihn als Refrain nehmen. | |
Viele UkrainerInnen haben nicht im Traum daran gedacht, dass es zum | |
Einmarsch von Russland kommen könnte. Und nun sehen wir täglich die | |
entfesselte Gewalt. | |
Auch wenn dieser Krieg schon vor acht Jahren begonnen hat, habe auch ich | |
nicht mit einer derartigen Eskalation gerechnet. Ich kann es nur damit | |
begründen, dass ich letztlich Optimist bin, und als solcher wollte ich mir | |
die Möglichkeit eines großen Krieges nicht ausmalen. Kaum jemand hat mit | |
einer derart dramatischen Entwicklung gerechnet. | |
Im Donbass hat russische Propaganda dafür gesorgt, dass aus Nachbarn Feinde | |
wurden. Damit einher ging eine diffuse Sowjet-Nostalgie, gemischt mit | |
religiösen russisch-orthodoxen Untertönen. Kann es sein, dass Gespenster | |
wie der Stalinismus unbewältigt sind? | |
Die Sowjetunion war ein Imperium und hat auch als Imperium funktioniert. | |
Für viele Menschen war sie zwar ein künstliches Gebilde. Als es dann | |
auseinanderbrach und sich in unabhängige Staaten verwandelt hat, nach 1989, | |
und die Leute dann an den Folgen dieses Auseinanderfallens wirtschaftlich | |
und sozial leiden mussten, war es kein Wunder, dass sie sich das | |
vermeintlich gute oder leichtere Leben von vorher zurückgewünscht haben. | |
Das kann ich nachvollziehen. So funktioniert es doch immer mit Nostalgie, | |
dass man 30 Jahre später feststellt, was man mit 20 erlebt hat, war die | |
beste Zeit des Lebens. Aber ganz wichtig: Was gerade [2][in Putins Hirn] | |
vorgeht, hat mit dieser Nostalgie nichts zu tun. Das sehe ich auch nicht | |
als meine Aufgabe, die Vorstellungen und Wünsche dieses Monsters erklärlich | |
zu machen. | |
Was bedeutet der Westen für die Ukraine? Hat sich daran seit Kriegsausbruch | |
etwas geändert? | |
An der Orientierung hin zum Westen hat sich durch die Ereignisse nichts | |
geändert. Der Westteil der Ukraine mutet sehr europäisch an. In Lwiw habe | |
ich mehr Englisch gehört als in Berlin, viele Ukrainer fühlen sich | |
selbstverständlich als Europäer. EU-BürgerInnen brauchen seit 2012 keine | |
Visa mehr, um die Ukraine zu bereisen. Umgekehrt dürfen Ukrainer seit | |
einigen Jahren im Schengenraum ohne Visum reisen. Man hat in der Ukraine | |
immer [3][europäisch gefühlt], das war ein natürlicher Prozess. | |
Nicht, dass es mich gewundert hätte, aber vor einiger Zeit gab es ein vom | |
Goethe-Institut organisiertes Treffen, an dem namhafte ukrainische Autoren | |
teilgenommen haben, und alle vier sprachen fließend Deutsch! Die Ukraine | |
ist europäisch, sie ist seit mehr als 30 Jahren unabhängig. Und trotzdem | |
ist die Kultur sehr gemischt. Ich bin in einer russischsprachigen Familie | |
aufgewachsen. Auch mit meinem Kind spreche ich Russisch. Damit habe ich | |
noch nie ein Problem in der Ukraine gehabt. | |
Kennen Sie Künstler, die in der Ukraine ihr Land verteidigen? | |
Ich kann berichten, dass die Musiker von Kozak System, einer Band, die | |
schon oft durch Deutschland und Westeuropa getourt ist, alle bei den | |
Freiwilligen Verbänden in Kiew kämpfen. So wie viele andere, auch der | |
Sänger der Band Ruki’v Bryuki. Oder die Band Boombox. Der Sänger hat ein | |
Video gepostet, auf dem er in Uniform und mit Knarre ein Volkslied singt. | |
Finden Sie die hiesige Feuilletondebatte angemessen, die sich um russische | |
Kultur sorgt, seit das Arbeitsverhältnis mit einem russischen Dirigenten in | |
München beendet wurde, weil er sich nicht von Putins Politik distanziert? | |
Da muss ich jetzt aufpassen, dass ich nicht in die Falle tappe. Also, | |
pauschalisieren finde ich schlecht und man muss differenzieren. Die | |
Haltung, dass man jetzt unbedingt russische Kultur retten muss, | |
interessiert mich gerade überhaupt nicht. Denn ich denke an meine Freunde, | |
die mit Gewehren in der Hand im Bombenhagel kämpfen müssen. Ich will nicht | |
über Puschkin reden, ich will, dass das Blutvergießen so schnell wie | |
möglich beendet wird. | |
Was wir mit russischer Kultur machen, diese Diskussion sollte nach dem Sieg | |
der Ukraine geführt werden. Ich würde mir von russischen KünstlerInnen eine | |
klare Position zu Putin wünschen, aber wenn sie das nicht machen, ist es | |
einfach nur peinlich. Wie dann der Umgang mit ihnen in Deutschland sein | |
soll, da bin ich froh, dass ich keine Entscheidung treffen muss. | |
Was benötigt die Ukraine momentan am dringendsten? | |
Am nötigsten sind humanitäre Korridore im Kriegsgebiet, um Menschen | |
überhaupt zu ermöglichen, von dort fliehen zu können. Das Land braucht auch | |
Waffen. Man muss eine Flugverbotszone über der Ukraine durchsetzen. Für den | |
Wiederaufbau braucht es viel Geld, meine Heimatstadt Charkiw ist fast | |
komplett zerstört. Man muss weiterhin die Flüchtenden von dort aufnehmen. | |
Für die Hilfe, die jetzt schon geleistet wird, bin ich, sind alle | |
Ukrainer:Innen sehr dankbar. Eine Solidarität, mit der ich nie gerechnet | |
hätte! | |
11 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=8ENtHOVKWLM | |
[2] /Der-russische-Faschist-Alexander-Dugin/!5836919 | |
[3] /Fedir-Tetianychs-Kunst-in-Kiew-in-Gefahr/!5836563 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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