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# taz.de -- Vortrag über ukrainische Kultur: Nationaldichter mit großem MG
> Im Angriffskrieg steht es prekär um die ukrainische Kultur. Der Künstler
> Yuriy Gurzhy spricht am Mittwoch bei einer Vortragsreihe an der HU
> Berlin.
Bild: Auch prekär: Die Statue von Nationaldichter Schewtschenko in Charkiw
„Mein Opa ist in den späten 1970ern jeden Sonntag ziemlich betrunken nach
Hause gekommen und hatte ‚neue‘ Musikkassetten dabei“, [1][erzählt Yuriy
Gurzhy.] „Er war einer der Charkiwer Musikenthusiasten, die
Untergrundkassetten mit Westmusik tauschten. Ich habe seine Kassetten heute
noch. Total wilde Mischung. Mein Opa wäre heute ein ziemlich genialer DJ.“
Der Enkel ist ein erfolgreicher DJ und Musiker. Am Mittwochabend spricht
Gurzhy in der Vortragsreihe [2][„Rethinking and Reimagining Ukraine in
Times of War – and After“] im Hörsaal der Berliner Humboldt-Universität.
Dafür hat er einen Laptop mitgebracht und wirft [3][verschiedene
Taras-Schewtschenko-Motive] an die Wand, die so erst der russische
Angriffskrieg auf die Ukraine hervorgebracht hat: [4][etwa der
Nationaldichter mit Riesen-MG].
Gurzhy ist Gast jener Vorlesungsreihe, die vom Lehrstuhl für Slawistik
ausgerichtet wird und sich ausschließlich mit der Ukraine beschäftigt. Er
soll thematisch den Bereich Musik abdecken und erzählt von seiner ganz
persönlichen Annäherung an Schewtschenko: „Vor zwanzig, dreißig Jahren
kamen für mich seine Verse aus der tiefen Vergangenheit. Inzwischen sind
sie brennend aktuell, da sie oft die Unterjochung der Ukraine
thematisieren.“ Und darum lässt Gurzhy diese Dichtkunst, entstanden vor
fast 200 Jahren, sprechen, indem er sie vertont.
## Musik aus Gedichten
Zusammen [5][mit seinem Freund und Mitstreiter Serhij Zhadan hat Gurzhy
schon einige Alben auf den Weg gebracht], die aus Gedichten Lieder machen.
Und so wird aus der Erzählung über ukrainische Musik auch eine Erzählung
über ermordete und dann ins Vergessen gestoßene Dichter:innen, die alle
in demselben Haus in Charkiw lebten. Das „Haus des Wortes“ erschien den
ukrainischen Schriftsteller:innen, die hier eine großzügige Wohnung
zugeteilt bekamen, Ende der 1920er Jahre wie eine in Realität übersetzte
Utopie.
In dem Gebäude wurde auf Stalins Befehl hin die neueste Technik
beziehungsweise Überwachungstechnik installiert. So hatten alle 66
Wohnungen ein Telefon und das wurde abgehört. 1938 sind die meisten
Bewohner:innen tot. Hingerichtet. Verurteilt wegen ukrainischen
Nationalismus, nur weil sie ihre Werke auf Ukrainisch verfassten.
Gurzhy erinnert sich, wie er als Jugendlicher Ende der 1980er, Anfang der
1990er nach einer Alternative suchte zu der im sowjetischen Schulkontext
vermittelten Literatur. Er fand sie nicht. Denn seit den späten 1930ern
waren alle Spuren, die zu den ermordeten Charkiwer Literat:innen führen
könnten, getilgt worden. Eine Klassenkameradin von Gurzhy hat als Kind
genau in diesem Haus gewohnt. Erst weit nach den Nullerjahren hat sie
erfahren, dass sich in dem Zimmer, in dem sie als Kind schlief, 1933 der
damals sehr bekannte Schriftsteller Mikola Chvylovij das Leben genommen
hatte.
## Punk meets Poesie
Der 48-jährige Musiker lässt einen punkigen Track mit Poesie der
„hingerichteten ukrainischen Renaissance“ laufen und erinnert sich
plötzlich an das erste Musikfestival, bei dem ausschließlich auf Ukrainisch
gesungen werden sollte. Die Bands, die 1989 im westukrainischen
Czernowitz beim Festival Czerwona Ruta (Rote Rute) auftraten, hatten in der
Regel ihre Songs aus dem Russischen ins Ukrainische übersetzt.
Ihre Auftritte gelten inzwischen als legendär. Für Gurzhy war die Erfahrung
von ukrainischem Gesang extrem prägend: Denn er erkannte hier eine neue
musikalische Ebene, die ihn in seiner eigenen Entwicklung als Musiker stark
beeinflusst hat. Viel später beschäftigt er sich auch mit jüdischen
Musiktraditionen. Da lebt er schon längst in Berlin.
Nach dem 24. Februar 2022 schien für Gurzhy „einfach weiter Musikmachen“
unmöglich. Inzwischen ist das Album „Ukrainian Songs of Love and Hate“
veröffentlicht. In Zusammenarbeit mit den Poet:innen Grigory Semenchuk
und Lyuba Yakimchuk sowie der Musikerin und Schriftstellerin Irena Karpa
ist dabei ein Werk mit zehn Liedern entstanden, dessen Streamingerlöse
„dorthin fließen, wo sie gerade gebraucht werden, damit die Ukraine den
Krieg gewinnt“. Viele Menschen an der Front und im Bunker hören diese
Lieder. Vielleicht kann die während des Krieges entstandene Musik zu einer
Art musikalischem Tagebuch werden, überlegt Gurzhy.
Die Konzerte, die er seit Kriegsbeginn gibt, empfindet er als Therapie. Für
die, die Musik machen, genauso wie für die, die zuhören. Nicht selten
fließen kollektiv Tränen, sagt der Musiker. Irgendwie tut das gut.
7 Dec 2023
## LINKS
[1] /Ukrainischer-Musiker-Gurzhy-ueber-Krieg/!5840614
[2] https://www.hu-berlin.de/de/pr/nachrichten/november-2023/nr-23111-1
[3] /Stimmen-aus-der-Ukraine/!5901216
[4] /Solidaritaetssong-fuer-die-Ukraine/!5879193
[5] /Charkiwer-Kuenstler-Zhadan-und-Gurzhy/!5944495
## AUTOREN
Katja Kollmann
## TAGS
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