# taz.de -- Anarchistisches Ehrenamt in der Ukraine: Solidarisch und unbürokra… | |
> Die anarchistische Hilfsorganisation Radical Aid Force reist von Berlin | |
> aus in die Ukraine. Ihr Weg der Hilfe zur Selbsthilfe. | |
Bild: Nestor (rechts) und Asya, zwei Aktivist:innen, werden von lokalen Helfer:… | |
Wolja abo smert – Freiheit oder Tod“, lautet das Motto der anarchistischen | |
Hilfsorganisationen Radical Aid Force aus Berlin. Es prangt auf ihren | |
Shirts, Stickern, Aufnähern und auf ihrem Instagram-Profil, neben anderen | |
typischen Symbolen wie dem anarchistischen eingekreisten A und der | |
schwarz-roten anarchosyndikalistischen Flagge. | |
Die Losung geht auf den bekannten ukrainischen Anarchisten Nestor Machno | |
zurück, dessen Anhänger*innen, die sogenannte Machnowtschina, während | |
des Russischen Bürgerkriegs 1917 bis 1921 große Gebiete im Süden der | |
Ukraine kontrollierten. | |
Das momentan in Frontnähe gelegene Saporischschja und seine Umgebung war | |
Zentrum dieser Bewegung. Städte wie das von russischen Truppen zerstörte | |
und besetzte Mariupol befanden sich vor rund hundert Jahren [1][unter | |
anarchistischer Kontrolle]. | |
## Pseudonym: Nestor | |
Nestor ist auch das Pseudonym eines der Freiwilligen von Radical Aid Force, | |
die sich Anfang Januar auf eine siebentägige Tour mit Hilfslieferungen bis | |
wenige Kilometer vor die Frontlinie begeben. Es geht von Berlin über Lwiw, | |
Kyjiw, Poltawa, Charkiw und die nur wenige Kilometer von den aktuellen | |
Kampfhandlungen entfernten Orte Slowjansk, Kramatorsk und das befreite | |
Lyman – und anschließend wieder zurück nach Deutschland, insgesamt etwa | |
5.000 Kilometer. | |
So wie die anderen Aktivist*innen der Radical Aid Force möchte Nestor | |
anonym bleiben, denn: „Es geht hier nicht um uns, sondern um die Menschen | |
in der Ukraine.“ Auf Fotos tragen sie stets eine Sturmhaube, oder ihre | |
Gesichter sind verpixelt. | |
„Anarchismus ist freies Leben und unabhängiges Schaffen des Menschen“, | |
schreibt Machno in seinem „ABC des revolutionären Anarchisten“. Darin | |
heißt es auch: „Er ist nicht die Lehre einer Theorie und auf Grund dieser | |
Lehre künstlich geschaffener Programme.“ Es geht den Anarchist*innen | |
damals wie heute um direkte Aktion, Humanismus, nicht um endlose | |
theoretische Studien und Diskussionen. | |
Während nationalistische Figuren aus der ukrainischen Geschichte wie Stepan | |
Bandera, der auch mit den Nationalsozialisten kollaborierte, viel | |
Aufmerksamkeit auch hierzulande erfahren, ist vom Revival Machnos und der | |
Rolle anarchistischer Ideen [2][im subkulturellen Widerstand gegen den | |
aktuellen russischen Angriffskrieg] auf die Ukraine eher wenig bekannt. | |
## Freiheit für die Ukraine | |
Dabei vereinen sich verschiedene Menschen über Nationalstaatengrenzen | |
hinweg, die ein klares Ziel teilen: Freiheit für die Menschen in der | |
Ukraine. Auf der einen Seite sind da die antiautoritären Soldat*innen, | |
die nicht nur aus der Ukraine, sondern etwa auch aus Belarus, Russland und | |
Großbritannien stammen, auf der anderen Seite Helfer*innen, die sich zu | |
verschiedenen Gruppierungen zusammengeschlossen haben und | |
Zivilist*innen und Kämpfer*innen mit Hilfslieferungen unterstützen. | |
Als eine solche Gruppierung versteht sich auch die Berliner Radical Aid | |
Force. Über ihren Instagram-Account sammelt sie Spenden, mit Fundraisern | |
und dem Verkauf von Merch, Solipartys und Konzerten, um davon | |
Winterkleidung, Wärmeschutz für Soldat*innen in Schützengräben, Medizin, | |
Nahrung für Zivilist*innen in frontnahen Gebieten und sogar Drohnen, | |
Starlinks und Fahrzeuge für die ukrainischen Streitkräfte zu kaufen und | |
eigenhändig in die Ukraine zu bringen. | |
Radical Aid Force unterhält dafür auch eine Verbindung zu einer Berliner | |
Skatepunkband, die sie beim Spendensammeln unterstützt. Daneben kooperiert | |
sie mit verschiedenen gleichgesinnten Hilfsorganisationen innerhalb und | |
außerhalb der Ukraine wie den Kyjiwer Solidarity Collectives und Help War | |
Victims (HWV). | |
So begleitet die Aktivistin Asya von HWV Radical Aid Force auf einem Teil | |
der jetzigen Fahrt ganz im Osten, um beim Übersetzen zu helfen. Zudem ist | |
ihr das nicht gerade ungefährliche Gelände gut bekannt, denn HWV führt | |
unter anderem Evakuierungen von Zivilist*innen aus unter Beschuss | |
geratenen Orten durch. | |
## Linke Solidaritätsnetzwerke | |
Beruflich ist Asya eigentlich Toningenieurin, produzierte früher Dubreggae | |
und war in antifaschistischen Kreisen aktiv. Es habe sich politisch in den | |
letzten Jahren vor der russischen Invasion in der Ukraine viel bewegt. | |
Begeistert berichtet sie über linke Solidaritätsnetzwerke, die sich bei | |
Telegram organisieren, und die gut besuchte Tanzdemo im | |
Kyjiw-Podil-Viertel gegen Polizeigewalt am 21. Mai 2021. Jetzt könne sie | |
keine Musik mehr machen, momentan widme sie sich voll und ganz der | |
ehrenamtlichen Arbeit. | |
Radical Aid Force übernachtet an einem der Tourentage in den | |
Lagerräumlichkeiten von HWV auf dem Boden neben meterhoch gestapelten | |
Kisten voller Hilfsgüter. Die Winterfahrt in die Ukraine unternimmt Radical | |
Aid Force mit zwei Minibussen, bis an den Rand mit Hilfslieferungen | |
gefüllt, sowie mit einem olivgrünen, mit Spendengeld finanziertem | |
Suzuki-Jeep. In der Ukraine angekommen, wird das Fahrzeug den | |
Soldat*innen der 110. Brigade übergeben. | |
Vor der Übergabe wird im Fond noch eine Botschaft hinterlassen: „This car | |
is called Susi. Susi likes to fight Russia!“ | |
Bei der Spendenaktion für diese Winterhilfsfahrt sammelten sie einen Betrag | |
von 13.120 Euro. Manchmal wird die Spotify-Punkrock-Playlist à la | |
„Schneller leben (Stirb jung)“ von den Ärzten auf der Tour von | |
Mainstreamsongs unterbrochen. „Die Young“ von Kesha, „Grenade“ von Bruno | |
Mars und „Hero“ von Enrique Iglesias. An schwarzem Humor mangelt es den | |
Aktivisten jedenfalls sicher nicht. | |
## Kontakt durch die Punkszene | |
„Unser Kontakt in die Ukraine kam durch die Punkszene zustande“, sagt | |
Radical-Aid-Force-Mitglied Zora, am Steuer des Vans sitzend. Nestor war | |
früher selbst Mitglied einer Hardcorepunkband, er spielte zusammen mit | |
verschiedenen Bands aus der Ukraine. Befreundet sei man etwa mit Bezlad aus | |
Charkiw. | |
Man habe den Bekannten aus der Szene direkt am 24. Februar 2022 geschrieben | |
und gefragt, wie man am besten helfen könnte. So ging es mit dem | |
ehrenamtlichen Engagement los. Die subkulturellen Bezüge von früher leben | |
weiter in Form internationaler Solidarität für die Menschen in der Ukraine | |
im Krieg. | |
Unterwegs bei einem Zwischenstopp in den Lagerräumen der Solidarity | |
Collectives in Kyjiw werden die Opfer, die der Befreiungskampf fordert, | |
sichtbar: über dem Kamin hängen Fotos gefallener anarchistischer | |
Soldat*innen. Zuletzt starb ihr Freund Marsy im Kampf um Avdiivka, | |
berichten Helfer*innen der taz. Bevor er in den Kampf zog, schloss der | |
Brite in Oxford ein Geschichtsstudium ab. Weitere Details und sein voller | |
Name werden auf Wunsch der Familie nicht genannt. | |
Die Aufgaben, die sich Radical Aid Force und ihre Freunde seit Beginn des | |
russischen Angriffskrieges setzen, lauten: Zivilist*innen und | |
Soldat*innen in frontnahen Gebieten mit allem unterstützen, was dringend | |
benötigt wird und wo staatliche Strukturen versagen – und dadurch Leben | |
retten. Schnell, solidarisch, unbürokratisch, in Zeiten schwindenden | |
öffentlichen Interesses am Schicksal der Ukraine und niedriger | |
Temperaturen im Kriegswinter überhaupt keine leichte Aufgabe. | |
## Perfekt geplant | |
Entgegen allen Chaotenklischees entpuppen sich die Anarchist*innen der | |
Radical Aid Force als wahre Organisationstalente. Die Hilfstour ist | |
minutiös durchgeplant, selbst Kaffeepause und Feierabendbier werden für | |
weitere Planungsschritte [3][und Treffen mit Kontakten genutzt], etwa mit | |
dem aus Belarus stammenden Anarchisten Warpunx, der an der Seite der | |
Ukraine kämpft und dem ein Starlink für seine Einheit übergeben wird. Für | |
das Ausfüllen der Zollkontrollformulare existiert sogar ein mobiler Drucker | |
an Bord. Für Schlaf bleibt wenig Zeit. | |
Auf dem Rückweg nach Berlin sind die beiden Vans nicht etwa leer, sondern | |
transportieren ältere Geflüchtete zur Geflüchtetenannahmestelle | |
Berlin-Tegel, wo sie übernachten und am nächsten Tag in ebenfalls von den | |
Aktivist*innen organisierte Privatwohnungen fahren – um nicht in | |
Massenunterkünften bleiben zu müssen. | |
Am Ende der langen Hilfsfahrt sagen die Anarchist*innen der taz, dass | |
man sich am nächsten Tag noch etwas ausruhen wolle, bevor es dann wieder | |
direkt weitergehe: die nächste Tour planen, Buchhaltung, Spenden sammeln. | |
Weitermachen werde man mindestens, bis die Ukraine gewinnt. | |
Radikale Solidarität ist kein Zuckerschlecken. | |
16 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Kosaken-in-der-Ukraine/!5862753 | |
[2] /Russland-und-Ukraine-dekolonialisieren/!5839859 | |
[3] /Clubkultur-und-Technoszene-in-Kyjiw/!5942887 | |
## AUTOREN | |
Yelizaveta Landenberger | |
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