# taz.de -- Kölner Theatergruppe in der Ukraine: Umarmung durch die Jahrhunder… | |
> In der ukrainischen Stadt Lviv sind die Theater so gut besucht wie nie. | |
> Internationale Kooperationen bringen finanzielle Unterstützung. | |
Bild: Die Stadt Lviv, deutsch Lemberg, vibriert vor Leben. Auch in der Oper | |
Rund zwanzig Stunden dauert die Zugfahrt in die Ukraine, seitdem man Lviv | |
nicht mehr anfliegen kann – von Berlin durch ganz Polen, am Grenzübergang | |
Przemyśl muss der Zug gewechselt werden. Mitten in der Nacht bildet sich am | |
Grenzübergang eine lange Schlange von Fußgängern. Darin steht auch ein | |
junger Syrer, der in Lviv lebt. Ahmed ist Ingenieur bei Care International | |
und stellt die Wasserversorgung in ukrainischen Dörfern wieder her. | |
„Geht ruhig vor“, lacht er, als nach knapp zwei Stunden der Grenzschalter | |
öffnet, „bei mir dauert es, bis sie verstehen, dass ich kein illegaler | |
Flüchtling bin. Eigentlich sollten sie mein Gesicht kennen, so viele | |
Stempel habe ich im Pass.“ Im Zug auf ukrainischer Seite durchkämmen dann | |
Militärpatrouillen akribisch die Abteile. Am schönen alten Bahnhofsgebäude | |
in Lviv sind die Steinskulpturen an der Fassade mit Holzvorrichtungen gegen | |
Bomben verkleidet, die Fenster mit Sandsäcken geschützt. | |
Doch sonst erinnert auf dieser Reise der [1][Kölner Theatergruppe Futur.3] | |
nicht viel an Krieg: Die Stadt Lviv, deutsch Lemberg, vibriert vor Leben. | |
Alle Bars und Cafés sind geöffnet, auch die sieben Theater der Stadt. Um | |
den Fliegeralarm, der am ersten Tag zu hören ist, kümmert sich niemand. Vor | |
dem Krieg hatte Lviv rund 800.000 Einwohner, heute sind es fast eine | |
Million. | |
## Sitzkissen sind im Foyer verteilt | |
Menschen aus der Ostukraine haben hier Zuflucht gesucht, Soldaten | |
schlendern entspannt durch die Stadt. Das Lesi Theater, mit dem Futur.3 | |
seit rund drei Jahren kooperiert, ist ein alter Jugendstilbau im Zentrum, | |
knarzende Holzstufen führen in die Büroetage. Seit rund fünf Jahren wird | |
das Theater geleitet von einem Dreierteam aus jungen Frauen, gerade ist ihr | |
Vertrag verlängert worden. Radikal wollen sie es für die ganze Stadt | |
öffnen, Literaturort, Gesprächs- und Trostraum sein, in Schulen gehen, | |
dokumentarisch, feministisch, historisch, queer arbeiten. | |
„Gegen unsere Vertragsverlängerung haben besonders viele Männer | |
protestiert“, erzählt die künstlerische Leiterin Olha Puzhakovska. | |
Sitzkissen sind im Foyer verteilt, das Café schenkt schweren, süßen Rotwein | |
aus. Lviv, das Juwel, hat eine intakte Altstadt, ist Weltkulturerbe der | |
Unesco, verwunschen, verwinkelt, wunderschön. Doch am Rathaus, auf der | |
Fußgängerzone, sind auch die Bilder der jungen Lemberger aufgestellt, die | |
an der Front gestorben sind. | |
## Eine deutsch-ukrainische Koproduktion | |
Ist es in Ordnung, sich als unbedrohtes deutsches Theater im Kriegsgebiet | |
Ukraine bejubeln zu lassen? Oder geht es hier um eine Form von Western | |
Saviourism, auch wenn man das Gefühl, im Krieg zu sein, in Deutschland kaum | |
nachvollziehen kann? Aber immerhin handelt es sich bei der Aufführung „Ich | |
will leben“ der Kölner Gruppe Futur.3 um eine deutsch-ukrainische | |
Koproduktion: ohne den Schauspieler Andrij Krawtschuck, der in Lviv lebt, | |
wäre diese Stückentwicklung nicht denkbar gewesen. | |
Für Olha Puzhakovska ist es völlig eindeutig, dass deutsche Theater gerade | |
momentan in die Ukraine reisen müssen. Internationale Kooperationen | |
bedeuteten für sie finanzielle Unterstützung und Solidarität – auch, weil | |
in der Ukraine die Kulturbudgets seit Kriegsbeginn empfindlich gekürzt | |
wurden, Schauspieler und Techniker an der Front sind. Seit Monaten tobt im | |
Land eine emotionale Debatte, ob Kultur zurzeit überhaupt gefördert werden | |
sollte – oder ob nicht alle Mittel lieber ins Militär fließen. Aber wofür | |
kämpfen, wenn nicht um die [2][Kultur und Identität des Landes?] | |
## Die Geschichte von Selma Merbaum | |
Tatsächlich strömten die Ukrainer zur Zeit mehr denn je ins Theater, sagt | |
Puzhakovska, die Publikumsgespräche neu eingeführt hat und ihr Theater als | |
immersiven Raum für Gemeinschaft gestalten möchte. Dazu passt das Stück | |
„Ich will leben“, mit dem Futur.3 angereist ist, ziemlich gut: Es erzählt | |
auf Deutsch und auf Ukrainisch die Geschichte von Selma Merbaum, einer | |
jungen Dichterin, die 1942 in einem NS-Arbeitslager ums Leben kam. Dabei | |
ist das Stück keineswegs eine Kriegs- und Trauerveranstaltung, sondern | |
bewusst als Party für alle mit Neonfarben und Kunstnebel inszeniert. Die | |
ukrainische Musikerin Mariana Sadovska, die in Köln lebt, hat die Texte | |
mal als Rave vertont, mal als Chanson. „Lasst uns feiern, dass Selmas | |
Gedichte überlebt haben“, rufen sie von der Bühne. | |
Beim Transport ins Lager übergab Merbaum 1942 sie im geblümten | |
selbstgebastelten Umschlag einem Bekannten. Über abenteuerliche Umwege | |
landete er in Israel, dann bei der Lyrikerin Hilde Domin, die ihn einem | |
Journalisten gab – schließlich wurden die zarten, sehnsüchtigen Gedichte | |
bei Hofmann und Campe veröffentlicht. Eine Stimme vom Band erzählt | |
historische Kontexte, die in der Ukraine nicht als bekannt vorausgesetzt | |
werden können. Die Zuschauer sind begeistert. | |
## Sterben und Krieg sind der Kontext | |
„Es ist erstaunlich, was allein die Worte ‚Ich will leben‘ für politische | |
Wirkung entfalten – denn Sterben und Krieg sind unser Kontext, immer“, sagt | |
etwa der Kritiker Oleksij Palinitschka, der eigentlich als Autor im | |
Kindertheater arbeitet. Die Unidozentin Iryna Starovoyt ist zutiefst | |
berührt von der Stimme der jungen Dichterin, von der sie vorher nie gehört | |
hatte: „Es ist, als hätte sie uns eine Umarmung durch die Jahrhunderte | |
geschickt“. | |
„Durch Selmas Geschichte verstehen die Menschen von außen besser, was in | |
der Ukraine passiert und entwickeln Empathie“, sagt Olha Puzhakovska, „in | |
Selmas Schicksal erkennen wir uns wieder: Jeden Tag sterben in der Ukraine | |
Künstler – etwa vor Kurzem die Autorin Viktoria Amelyna, die von russischen | |
Raketen im Café getroffen wurde. Und wir spüren die historischen Schichten | |
dieses Krieges.“ Dass Lviv, Lemberg, vor dem Zweiten Weltkrieg eins der | |
größten Zentren des osteuropäischen Judentums war, sei nicht jedem Ukrainer | |
präsent. Heute erinnert nicht mehr viel an die einst rund 150.000 Juden in | |
der Stadt. | |
Zwei Tage später reisen Futur.3 nach Czernowitz weiter, Tschernivzi, in der | |
Bukovina, nahe der rumänischen Grenze. Es ist der Geburtsort von Selma | |
Merbaum und auch des [3][Dichters Paul Celan], die beiden waren Cousins. | |
Hier lebte Selma im jüdischen Ghetto mit Mutter und Stiefvater in einer | |
Einzimmerwohnung, von hier aus wurde sie deportiert. Im Stadtbild erinnert | |
immerhin eine kleine Skulptur an sie. | |
## Czernowitz war ein Zentrum des Ostjudentums | |
Unterstützt wurde der Besuch der deutschen Theatergruppe auch durch die | |
Zusammenarbeit der jüdischen Gemeinden von Düsseldorf und Czernowitz, seit | |
Mai 2022 verschwistert – die einzige Städtepartnerschaft, die seit Beginn | |
des Angriffskriegs geschlossen wurde. Auch Czernowitz gehörte zu den großen | |
Zentren des Ostjudentums, heute wohnen hier nur noch rund 1.500 Juden. | |
Mykola Kuschnir, Leiter des kleinen jüdischen Museums im prächtigen | |
„Jüdischen Haus“, spricht perfekt Deutsch und zeigt der Reisegruppe die | |
jüdischen Spuren der Stadt. | |
Direkt neben dem Museum liegt ebenfalls ein prachtvolles Jugendstiltheater, | |
absurderweise eine exakte Kopie des Theaters im deutschen Fürth. „Ich will | |
leben“ spielt hier vor rund 1.200 Zuschauern. Die Hälfte sind ukrainische | |
Jugendliche, die Selma Merbaum vorher wohl nicht kannten – das Stück aber | |
euphorisch feiern wie ein Konzert; ein Meer aus Lichtern wogt beim | |
Schlussrave. Und da fühlt es sich dann doch einfach so an, als sei hier ein | |
Theater zum richtigen Ort gereist. | |
15 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Deutsch-ukranisches-Theater-in-Koeln/!5893235 | |
[2] /Kuratoren-ueber-Kunst-im-Krieg/!5966018 | |
[3] /Bildbiografie-ueber-Paul-Celan/!5977430 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Marcus | |
## TAGS | |
Theater | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Shoa | |
Theater | |
Theaterstück | |
wochentaz | |
Theater | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
USA | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Theater in Heidelberg: Safe Space aus Plüsch | |
In „Meine Hölle / Моє пекло“ erzählt Oksana Savchenko von zwei au… | |
Ukraine geflohenen Frauen. Simone Geyer inszeniert das Stück in Heidelberg. | |
Theaterstück zum Ukrainekrieg: Ein riesiger Elefant steht im Raum | |
„Postkarten aus dem Osten“ regt zum Nachdenken über Krieg und seinen | |
Kontext an. Zweisprachig spielt das Stück an der Berliner Schaubühne. | |
Anarchistisches Ehrenamt in der Ukraine: Solidarisch und unbürokratisch | |
Die anarchistische Hilfsorganisation Radical Aid Force reist von Berlin aus | |
in die Ukraine. Ihr Weg der Hilfe zur Selbsthilfe. | |
Dadaismus am Deutschen Theater Berlin: „Da steht ein Mann!“ | |
Die Ursonate von Kurt Schwitters ist ein lautmalerisches Meisterwerk. | |
Claudia Bauer inszeniert sie als Komödie über Machtgelüste. | |
Orchester aus Lviv auf Tour: Die Schönheit ukrainischer Musik | |
Die Musiker des Lviv National Philharmonic Symphony Orchestra wollen | |
Botschafter ihrer Kultur sein. Jetzt spielen sie in der Berliner | |
Philharmonie. | |
Selenski in den USA: Es geht um mehr als nur die Ukraine | |
Einige Republikaner blockieren weiter neue Hilfen für die Ukraine und | |
zeigen sich vom Besuch von Präsident Selenski in Washington unbeeindruckt. | |
Kriegsversehrte in der Ukraine: Vom Feld aufs Feld | |
Sie wurden im Krieg schwer verwundet und haben ein Bein verloren, nun | |
spielen sie Fußball. Beim ukrainischen FC Pokrowa geht es um mehr als | |
Sport. |