# taz.de -- Theaterstück zum Ukrainekrieg: Ein riesiger Elefant steht im Raum | |
> „Postkarten aus dem Osten“ regt zum Nachdenken über Krieg und seinen | |
> Kontext an. Zweisprachig spielt das Stück an der Berliner Schaubühne. | |
Bild: Nicht immer einer Meinung: Yurii Radionov, Mariya Klimova, David Ruland (… | |
Treffen sich eine Gymnasiallehrerin, eine Juristin, ein Schauspieler und | |
ein Dokumentarfilmer in einer stilvollen Altbauwohnung zum Abendessen, das | |
Setting könnte auch der Grundstock sein für ein [1][neues | |
Yasmina-Reza]-Stück, in dem sich wohlsituierte westeuropäische | |
AkademikerInnen die Zivilisationsmaske vom Kopf reißen. So geht David | |
Ruland über abgezogene Dielen, streicht über den Tisch vom | |
Antiquitätenmarkt und richtet die weißen Stühle aus (Bühne: Jan | |
Pappelbaum). | |
Dann begrüßen sich Maria, die Lehrerin (Carolin Haupt), Orest, der | |
Schauspieler (Yurii Radionov) und Lukas, der Dokumentarfilmer. Später | |
kommt noch Nastja, die Juristin (Mariya Klimova) dazu. Und ein riesiger | |
Elefant steht von Anfang an im Raum: der Krieg in der Ukraine. | |
Was kommt, ist das komplette Gegenteil von einem Reza-Stück. Der Kyjiwer | |
Dramatiker Pavlo Arie und der Schaubühnen-Dramaturg Martín Valdés-Stauber | |
(plus Ensemble) lassen in „Postkarten aus dem Osten“ zwei deutsche und zwei | |
ukrainische Figuren im Studio der Schaubühne aufeinandertreffen. Alle vier | |
verbindet eine jahrelange Freundschaft, die Liebe zur Ukraine und der | |
Schmerz um den möglichen Verlust von Mischa, Ehemann von Nastja und enger | |
Freund der anderen. Er kämpft an der Front. | |
Immer wieder spielen die vier wie im Stakkato. Akustisch wird dieses | |
entfesselte Spiel begleitet durch ein Geräusch, das an eine Videokassette | |
im Vorspulmodus erinnert. Regisseur Stas Zhyrkov setzt dieses Stilmittel | |
ein, wenn die Figuren sich gegenseitig Normalität vorspielen. Denn Maria, | |
Lukas, Nastja und Orest können ihre Ohnmacht, Trauer und Verzweiflung nicht | |
in Gesellschaft ausdrücken. Nur wenn sie alleine sind, bricht es aus ihnen | |
heraus. | |
## Allianzen quer über „Ländergrenzen“ hinweg | |
So entstehen vier Szenen mit einer bedrückenden Intimität, in der die Bühne | |
einer einzelnen Figur gehört. Orest trauert wütend um sein geliebtes | |
Mariupol und klatscht Fotos von früher an die Wand. Nastja hat einen | |
Riesenpacken Papier im Arm und erzählt einem imaginären Gegenüber, wie | |
wichtig es ist, Beweismittel für die Kriegsverbrechen in der Ukraine zu | |
sammeln. Und Maria hadert mit der Diskrepanz zwischen ihrem über Jahre | |
verinnerlichten Pazifismus und einer Situation, in der eine Armee Waffen | |
braucht, um die Heimat gegen einen Aggressor zu verteidigen. | |
Mariya Klimova, die aus Odessa kommt, und Yurii Radionov, der in Bachmut | |
geboren wurde, sprechen meistens ukrainisch – auch im Dialog mit Carolin | |
Haupt und David Ruland, die auf Deutsch antworten. Das ist sprachlich sehr | |
spannend. Alle vier werfen sich ins Spiel und laden so ihre Figuren mit | |
Emotionen auf. Gleichzeitig statten Arie und Co. die ProtagonistInnen mit | |
einer Prise Selbstironie aus. Die vier fetzen sich auch mal, die Allianzen | |
verlaufen dann quer über die „Ländergrenzen“ hinweg. | |
Als Lukas überlegt, eine Doku über seine deutsch-ukrainische Clique zu | |
drehen, hat er alle drei gegen sich. Unisono beschuldigen sie ihn, vom | |
Krieg profitieren zu wollen. Und als es um die Offenlegung der | |
Kollaboration von Ukrainern mit den deutschen Besatzern im Zweiten | |
Weltkrieg geht, bricht ein erbitterter Disput zwischen Orest und Nastja | |
aus. | |
Auch die deutsche Seite wird befragt, war doch Lukas’ Großvater als | |
Wehrmachtsangehöriger in Mariupol. Dann sitzt Klimova allein auf der fast | |
dunklen Bühne und lässt Nastja von ihrer Mutter erzählen, die in | |
Deutschland Zuflucht vor dem Krieg gefunden hat. | |
Und der seit dem 7. Oktober letzten Jahres jegliches Sicherheitsgefühl in | |
ihrem Exilland abhanden gekommen ist, denn sie ist Jüdin und hört nun | |
dieselben Parolen wie damals. In neunzig dichten Minuten werden im Studio | |
der Schaubühne viele Fragen aufgeworfen und hierarchiefrei in den Raum | |
gestellt. Zum weiteren Nachdenken über diesen Krieg und seinen Kontext. Das | |
ist die große Leistung dieses Abends. | |
2 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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