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# taz.de -- „Der große Wind der Zeit“ in Stuttgart: Alles ist möglich, al…
> Am Schauspiel Stuttgart inszeniert Stephan Kimmig Joshua Sobols Epos „Der
> große Wind der Zeit“. Es ist das Stück zum Nahostkonflikt.
Bild: Paula Skorupa als Eva in Stephan Kimmigs Inszenierung von „Der große W…
968 Terrorverdächtige hat die Verhörspezialistin Libby Chaimson bereits zum
Reden gebracht. Jetzt hat sie genug vom ewigen Post-Geständnis-Kreislauf
aus „Haft. Hauszerstörung. Vergeltungsanschlag. Untersuchungshaft. Verhör.
Prozess. Hauszerstörung“. An ihrem letzten Tag beim israelischen Militär
steckt ihr der junge Palästinenser Adib einen Zettel mit seiner
Telefonnummer ins Haar und einen vergifteten Floh ins Ohr: Ihr Großvater
habe seine Großmutter 1949 aus ihrem Land vertrieben. Es beginnt eine
Odyssee in die Geschichte der Familie Chaimson und eines Konfliktes, der
[1][seit dem 7. Oktober 2023] wieder seine hässlichste Fratze zeigt.
Der israelische Dramatiker Joshua Sobol hat sein Epos „Der große Wind der
Zeit“ lange zuvor geschrieben. 2021 ist das Buch auf Deutsch erschienen. Es
ist ein echter Schmöker, ein differenziertes Stück Geschichtsunterricht und
ein Aufruf, die Kommunikation mit der „anderen Seite“ nie abreißen zu
lassen.
Die Stückfassung für das Schauspiel Stuttgart hat Sobol selbst erstellt und
vor allem die erotischen Ränke der Nebenfiguren gekappt, aber auch die
alten Freunde von Libbys Großvater Dave, die das Sprechen über die
Kampflinien und ideologischen Gräben hinweg noch nicht verlernt hatten. Sie
fokussiert noch stärker auf die drei Hauptfiguren, deren wichtigste nur
über ihre Tagebücher in die Geschichte schwappt.
Von dem Moment an, als Camille Dombrowskys Libby die Aufzeichnungen ihrer
Urgroßmutter Eva entdeckt, steht sie in Stephan Kimmigs Uraufführung von
„Der große Wind der Zeit“ unter Strom. Warum ihre Vorfahrin, die die freie
Liebe, das freie Denken und den permanenten Aufstand lebte, sie zur
Dauerschnappatmung treibt: Im Tagebuch steht der kurze Satz: „Libby ist
ich.“
## Lauter Memmen
Womöglich steckt der wahre Grund aber in dem Dilemma, eine Lesende zu
inszenieren, die sich mit einer Schreibenden identifiziert, während sie
selbst kaum etwas zu tun hat? Wie ihr Schatten taucht Paula Skorupa als Eva
plötzlich hinter Libby auf und atmet ihr in den Nacken. Etwas Lauerndes im
Blick, den Mund erwartungsvoll halboffen. Man erlebt sie im Kibbuz, wo sie
ihren drei Geliebten eröffnet, schwanger zu sein, aber ohne Kind bei
[2][Mary Wigman] Tanzen lernen zu wollen. Und wie verklemmt die Kibbuzim
schauen, als sie vorschlagen, „ziehen wir uns doch einfach aus wie früher“.
Und wie brav sie im Chor skandierte „Die Frucht unserer Liebe, unser aller
Kind!“ Lauter Memmen.
Eva ist ein Orkan, nicht sonderlich sympathisch, aber man kommt schwer
gegen sie an. Weder „das Lederjackett“ Bert Brechts, dessen
Selbstverliebtheit der Roman viel gekonnter aufspießt als die ins Parkett
ausgreifende Spielszene, noch Evas Nazi-Lover, mit dem sie am 30. Januar
1933 Hitler sprechen hört. Danach warnt sie ihre Eltern, die die Warnung
für zionistische Propaganda halten, geht zurück nach Israel und bewaffnet
sich.
Die „Schwemme“ jüdischer Flüchtlinge weckt den Widerstand der
palästinensischen Bevölkerung. Es kommt zur Bestialisierung auf beiden
Seiten und „irreparablen Vergehen“, sagt Dave, wie jenem, dass Adibs
12-jährige Cousine mit drei Kugeln im Kopf stirbt. „Wer einen Krieg
beginnt, weiß nicht, wie er ausgehen wird“, sagt Libby.
Erzählt wird davon auf drei Etagen des Bühnenbildes von Katja Haß, einem
drehbaren Sichtbetonbau, dessen kurze Seite aussieht wie ein schwer
navigierbares Schiff, die lange wie ein Bungalow in einer
[3][Simon-Stone-Inszenierung], nur ohne Details. Im größten Raum sorgt der
Musiker Max Braun für unterschiedliche Stimmungen, während die Stimmen
durch teils übersteuerte Mikroports eher gleichförmig klingen.
Vermeidung jeder Körperlichkeit
Als solle nichts von der Geschichte ablenken, verzichtet Kimmig auf Props.
So lehnt der notorische Motorradfahrer Dave (Sebastian Röhrle) lediglich
cool an der Wand und spricht wie Udo Lindenberg. Dombrowsky darf nur einmal
einen hohen Verzweiflungston singen. Der Spielraum gehört ganz Skorupa, die
ihn bereitwillig füllt: inklusive einer Ausdruckstanzeinlage zwischen
Persiflage und Abstraktion. Ein insuläres Ereignis an einem Abend, der
sonst jede Körperlichkeit meidet. Selbst im Kibbuz scheinen die Umarmungen
zu klemmen, als bestünde bei jeder Berührung Explosionsgefahr.
Und Libby und Adib, den Felix Strobel als hibbeligen Spießer im Anzug
spielt, verdienen den Preis für das linkischste Liebespaar in spe. Etwas
linkisch auch die am Ende in den Zuschauerraum hinein ausgestreckten Hände.
Aber was kann man auch sonst derzeit tun, wenn Sobols Mantra gilt: „Alles
ist möglich. Alles ist unmöglich.“
26 Feb 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Sabine Leucht
## TAGS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Bühne
Stuttgart
Theater
Rudolf Steiner
Sexismus
Theater
Theaterstück
Münchner Kammerspiele
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