| # taz.de -- Theaterstück über Männer von gestern: Große Metapher, kleiner J… | |
| > Zwei Stücke am Schauspiel und am Theater Rampe, beide in Stuttgart, | |
| > widmen sich den problematischen Männern von gestern, darunter ist Rudolf | |
| > Steiner. | |
| Bild: Die Schauspieler Reinhard Mahlberg und Samuel Santangelo in „Die Erzieh… | |
| Wie viele berühmte Denker verlor auch der Reformpädagoge Rudolf Steiner | |
| (1861 bis 1925) seine Unschuld. [1][Rassistische und deutschnationale | |
| Anklänge in seinen Schriften] offenbaren für Leser:innen der Spätmoderne | |
| längst die Schattenseiten eines Intellektuellen, dessen Philosophie ihren | |
| Anfang eigentlich in der Freiheit nahm. | |
| Im Theater einen kritischen Blick auf diesen einst so auratischen Begründer | |
| von Waldorfschulen und Anthroposophie zu werfen, wäre zwar erwartbar, aber | |
| eben auch ein wenig fade. In der Uraufführung „Die Erziehung des Rudolf | |
| Steiner“ am Schauspiel Stuttgart setzt man daher experimentierfreudig auf | |
| die schillernden Grundideen des Reformers. Ihnen zufolge verbergen sich | |
| hinter der materiellen eine geistige und damit wahre Welt. | |
| Wer allerdings die eine oder andere für den Theosophen wichtige | |
| Erkenntnistheorie – von Platons Höhlengleichnis bis hin zu Fichtes und | |
| Schopenhauers radikalem Subjektansatz – kennt, weiß: Um zu dieser tiefen | |
| Fülle des Daseins zu gelangen, bedarf es eines neuen, die Oberfläche | |
| durchdringenden Sehens. | |
| ## Reflektion über Trug und Wirklichkeit | |
| [2][Das Regiekollektiv Dead Centre] hat dafür ein faszinierendes | |
| Bühnenkonzept entwickelt. Im Vordergrund, dem profanen Raum, steht ein | |
| Junge (Flinn Naunheim). Auf groteske Weise altklug reflektiert er über Trug | |
| und Wirklichkeit, Spiel und Realität, während hinter einer durchsichtigen | |
| Spiegelfläche diverse Szenen seiner Imagination stattfinden. Wir werden so | |
| Szenen aus dem Leben seiner Eltern gewahr, treffen zwischen Aus- und | |
| Abblenden auf Nietzsche, einen Kräutersammler und andere für Rudolf Steiner | |
| prägende Figuren. | |
| Mittels einer speziellen Tricktechnik wird dabei die kindliche Erzählfigur | |
| auf der vorderen Bühne gleichzeitig auf das Hintergrundgeschehen | |
| projiziert. Aus dieser permanenten Doppelung entsteht eine | |
| Geisteratmosphäre, geschaffen und dirigiert von einem Kind, das sich im | |
| Gegensatz zu den desillusionierten Erwachsenen sein Vorstellungsvermögen | |
| bewahrt hat. | |
| Wir wohnen letztlich einem märchenhaften Loblied auf die Macht der Fantasie | |
| bei. Doch damit nicht genug! Denn diese Inszenierung lässt sich ebenso als | |
| eine Großmetapher auf das Theater selbst verstehen. Je mehr der Junge sich | |
| ausdenkt, desto mehr Möbel kommen auf das Parkett, die später auch auf der | |
| Leinwand durch die Luft schweben. Wie in einem Probeprozess manifestiert | |
| sich so allmählich ein innerer Kosmos auf der Bühne, magisch und | |
| hellsichtig. | |
| ## Klischeefigur alter weißer Mann | |
| Während man somit im Schauspiel Stuttgart in metaphysische Sphären | |
| vordringt, beschäftigt sich das Theater Rampe wenige Kilometer entfernt mit | |
| der profanen Gegenwart. Genauer: mit einem ziemlich festgefahrenen Typus, | |
| der seit den Zehner-Jahren in aller Munde ist, nämlich dem „alten, weißen | |
| Mann“. Zwischen live gespielten Country-Songs präsentieren Lina Syren und | |
| Andreas Vogel Texte zu dieser Klischeefigur. Wir erfahren über ihn, dass er | |
| entweder AfD oder gar nicht wählt, E-Autos als seelenlos erachtet, gern vor | |
| sich hinrotzt und Frauen aus der Bier-Werbung geil findet. | |
| Noch deutlicher tritt dessen Chauvi-Attitüde in einem technisch wie | |
| sinnbildlich dem Steinzeitalter entspringenden Dia-Vortrag über Mode | |
| zutage. Sollen florale Stoffmuster auf schlanken Frauenkörpern die Welt | |
| verschönern, diene der Präsentation gemäß die Kleidung von Ü60-Herren nur | |
| der Funktionalität. | |
| Mehrzweck- und Anglerwesten mit allerlei Taschen für Werkzeug stehen bei | |
| ihnen hoch im Kurs. Praktisch ist hierbei zudem die unauffällige Farbe. Mit | |
| ihrer Tarnung kommt man nämlich unentdeckt in den Hobbykeller, wo die | |
| Modelleisenbahn auf die feschen Lokführer wartet. | |
| ## Selten mehr als die angestaubte Karikatur | |
| Auch wenn diese von Aliki Schäfer, Andreas Vogel und Max Braun arrangierte | |
| Performance für reichlich Humor und Unterhaltung sorgt, kommt sie nur | |
| schwer über die ohnehin angestaubte Karikatur hinaus. Lediglich | |
| Video-Intermezzi, in denen Männer zwischen sechzig und neunzig Jahren zu | |
| ihrer Biografie und ihren Ansichten interviewt werden, sorgen für etwas | |
| Ambivalenz. Manche sprechen über ihre Unzulänglichkeiten beim Tanzen oder | |
| im Kontakt mit Frauen, andere über ihre Probleme mit der Partei Die Grünen. | |
| Immerhin hofft auch einer von ihnen, dass die patriarchale Vormachtstellung | |
| irgendwann der Geschichte angehören wird. Männer, ändert euch! So lautet | |
| der berechtigte Appell dieses aus dokumentarischen, fiktionalen und | |
| essayistischen Texten zusammengesetzten Abends. Nur wo bleibt das Theater? | |
| Sein Sog und seine Wucht? Ein wenig mehr Dynamik, wie sie dem Schauspiel | |
| Stuttgart mit seiner Annäherung an die spirituellen Höhenflüge Steiners | |
| gelingt, hätte wohl auch „Old Man (Look at My Life)“ gutgetan. | |
| Gemein haben die beiden noch so unterschiedlichen Darbietungen allerdings, | |
| dass sie jeweils den Traum von einem anderen Dasein entfalten. In einer | |
| Zeit, die uns aktuell so trostlos und festgefahren erscheint, mutet diese | |
| Aussicht auf Veränderbarkeit erfrischend und ermutigend an. Wir sind frei. | |
| Und zwar nicht nur auf der Bühne. | |
| 14 Oct 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Björn Hayer | |
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