| # taz.de -- Dadaismus am Deutschen Theater Berlin: „Da steht ein Mann!“ | |
| > Die Ursonate von Kurt Schwitters ist ein lautmalerisches Meisterwerk. | |
| > Claudia Bauer inszeniert sie als Komödie über Machtgelüste. | |
| Bild: Bei der „Ursonate“-Inszenierung im DT ergeht sich ein Chor in weißen… | |
| Gespitzte Lippen, die ein p herausschleudern, erhobene Augenbrauen über dem | |
| ö, grimmige Blicke, die das mpff begleiten: Die Mimik spricht virtuos und | |
| bloße Buchstaben werden zum rhetorisch scharfen Schwert. Die Schauspielerin | |
| Anita Vulesica hackt dazu auf die Tasten einer Schreibmaschine ein. Sie | |
| sitzt dabei hinter einer Bühnenwand, auf die ihr Gesicht groß projiziert | |
| wird: Davor ergeht sich ein Chor in weißen Tutus in hellem Gesang mit | |
| Glockenspiel. | |
| Sie war dabei mit ihren dunklen Lauten, gespuckten und gewürgten | |
| Störgeräuschen, bis sie verjagt wurde, hinter die Wand. Jetzt sitzt sie | |
| dort und sinnt auf Rache, voller Hohn, Spott und Bitternis über das | |
| harmoniesüchtige Spiel da vorne und ihren Rausschmiss. | |
| Das ist allerdings eine (meine) Zuschauer-Fantasie. Doch solche zu | |
| entwickeln, dazu lädt die Inszenierung „Ursonate (wir spielen, bis uns der | |
| Tod abholt“ von [1][Claudia Bauer am Deutschen Theater (DT)] in Berlin aufs | |
| Schönste ein. [2][Kurt Schwitters’ „Ursonate“ ist ein Lautgedicht, | |
| komponiert in den Sätzen einer Sonate]. | |
| Mit der Zeile „Fümms bö wö tää zää Uu“ geht es los, mit „rakete ri… | |
| // rakete rinnzekete“ in vielen Wiederholungen jagt die Sprachmaschine wie | |
| eine Lokomotive davon, manchmal rollen allein die r hintereinander weg wie | |
| am Fließband. Figuren oder szenische Anordnungen gibt Schwitters’ Werk, an | |
| dem der Dadaist über neun Jahre lang (1923 bis 1932) arbeitete, nicht vor. | |
| Aber der Rhythmus des abstrakten Sprachmaterials erlaubt, ihn mit | |
| Situationen zu unterlegen. | |
| ## Zwischen den Weltkriegen entstanden | |
| In der Inszenierung des Deutschen Theaters wird das noch unterstützt von | |
| der Musik, die Peer Baierlein dazukomponiert hat. Einzelne Passagen werden | |
| zum Walzer, zum Blues oder zum Marsch. Manchmal klingt es zart und innig, | |
| als käme gleich ein Weihnachtslied um die Ecke. | |
| Bis sich durch das Weiche eine einzelne Stimme grunzend, hart und unwirsch | |
| bohrt, mit Lauten, die ihr das Unglück höchstpersönlich auferlegt zu haben | |
| scheint. So stellt sich immer wieder eine Spannung zwischen der Gruppe und | |
| dem Einzelnen her, Konkurrenzen werden ausgefochten, zugewiesene Positionen | |
| mit Leid ertragen, dominante Positionen mit Trotz und Starrsinn erfochten. | |
| Ein Star des Abends ist Anita Vulesica, Schauspielerin und selbst auch | |
| Regisseurin, die als ehemaliges Ensemblemitglied des DT dort noch in | |
| einigen Produktionen zu sehen ist. In einer Passage ist sie trunken vor | |
| Selbstherrlichkeit, dirigiert und marschiert. Dass sie dabei an die | |
| Karikatur eines Diktators erinnert, kommt nicht von ungefähr. Die Ursonate | |
| entstand in den Jahren zwischen den Weltkriegen, Ideologien entwickelten | |
| extreme Positionen, Demagogen hatten Zulauf. | |
| Einen militaristischen Geist der Lächerlichkeit auszuliefern, ist die | |
| Ursonate bestens geeignet. Aber auch der zerstörerische Lärm des Krieges | |
| lässt sich in ihr hören. Sie war schließlich Dada, eine Kunst, die aus den | |
| Scherben einer alten zerfallenden Welt las, bekannten Sinn abschüttelte und | |
| doch in ihrer Lust auf Nonsens alles andere als sinnfrei war. | |
| ## Perfektion ihrer Sprachakrobatik | |
| Claudia Bauers Inszenierung setzt die Schauspieler vielfach als Chor ein. | |
| Viele von ihnen sind neu am DT, gekommen mit der neuen Intendantin [3][Iris | |
| Laufenberg]. Man lernt sie mit diesem Stück als ein erstaunlich gut | |
| singendes Ensemble kennen und bewundert zugleich die Perfektion ihrer | |
| Sprachakrobatik. Sie feuern die Zeilen der Ursonate teils in einer | |
| Geschwindigkeit ab, die Lippen, Zunge und Kehle viel Ungewohntes | |
| abverlangt. | |
| Nicht zuletzt ein Staunen über diese Leistung macht den Reiz des Abends | |
| aus. Und zugleich nimmt jeder in diesem Chor eine Rolle ein, die ihn als | |
| Individuum in der Gruppe markiert. Moritz Kienemann etwa, ein wenig | |
| kleiner als die anderen, ist der Gebeugte, Gedeckelte, oft | |
| Zurechtgewiesene, der wie unter Zwang an die Rampe tritt, um dann perfekt | |
| ein Antidot in die Sprachmelodie hinter ihm zu setzen. | |
| Die Situationen, die Spannungen, die Verhältnisse zwischen dem Einzelnen | |
| und der Gruppe, mit der das Ensemble den Text auflädt, lassen sich dabei | |
| einmal auf die gemeinsame Produktion eines Theaterabends und das | |
| Austarieren von Positionen und Rollen im Gesamtgefüge beziehen. Da schaut | |
| das Theater in einen Spiegel, in dem es Eitelkeiten und Machtgelüste | |
| entdeckt. Aber der Spiegel fasst auch einen größeren Rahmen von | |
| Gesellschaft. | |
| Da kommt ein zweiter Schwitters-Text ins Spiel, „Mama, da steht ein Mann“, | |
| der hier den Prolog zur Ursonate bildet. Gespielt wird eine Eskalation, | |
| eine sich schnell steigernde Hysterie, die auf Unterstellungen und bloßen | |
| Verdachtsmomenten beruht und eine Anfälligkeit der Masse für Verführung | |
| zeigt. Unruhen brechen aus. Und das alles, weil ein Mann ohne Erklärung für | |
| sein Tun auf der Straße steht. Dieser Prolog setzt die Zuschauenden | |
| gewissermaßen auf die Spur, in der Komik, die diese dadaistische Sprechoper | |
| so üppig entfaltet, gefährliche Untiefen zu ahnen. | |
| 19 Dec 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Theater-in-Karl-Valentins-Echokammer/!5900681 | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=Iow02-LO86Q | |
| [3] /Spielzeitbeginn-Deutsches-Theater-Berlin/!5958175 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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