| # taz.de -- Sprechopern in Braunschweig und Hamburg: Kluger Unsinn im Kuddelmud… | |
| > Mal menschelt's, mal politisiert's, immer spricht's: Sprechopern von | |
| > Ernst Jandl und vom hannoverschen Duo Kurt Schwitters und Käte Steinitz. | |
| Bild: Das Leben, eine Chronik der Ereignislosigkeit: Tobias Beyer und Getrud Ko… | |
| Angesichts der Sprachverstümmelungen im medialen Alltag stellen das | |
| Hamburger Schauspielhaus und Staatstheater Braunschweig, Sprache und das | |
| Sprechen mal in den Fokus: Sie greifen damit auf die dichterische Praxis | |
| beispielsweise Ernst Jandls zurück, der seine Experimente mit Worten mit | |
| denen in der Neuen Musik und abstrakten Kunst verglichen hat, die mit Tönen | |
| und Farben experimentieren, statt klanglich etwas auszudrücken oder optisch | |
| nachzubilden. Sodass das Bild, die Komposition selbst zum alleinigen | |
| Gegenstand wird. | |
| Jandl und sein [1][Dada-Vorgänger Kurt Schwitters] betrieben auch in ihren | |
| Theaterstücken diese spielerische Auflösung von Schreib- und | |
| Artikulationsregeln. Diese funktionieren auch prima als Beschreibung einer | |
| aus den Fugen geratenen, absurd gewordenen Welt. Ernst Jandl entwickelte | |
| 1979 mit seiner [2][Sprechoper „Aus der Fremde“], die zurzeit in | |
| Braunschweig zu erleben ist, allerdings auch klassische Theatersituationen, | |
| Szenen aus seinem Leben. Christoph Diem inszeniert das so, dass darin alle | |
| den eigenen ritualisierten Alltag erkennen können. | |
| Das Opernlibretto „[3][Zusammenstoß. Ein höchstwahrscheinlicher Irrtum“ | |
| (]1927) von Kurt Schwitters und Käthe Steinitz präsentiert hingegen den | |
| Alltag einer kapitalistischen Gesellschaft im Zustand der Bedrohung. Der | |
| wird in der Regie von Naemi Friedmann in Hamburg als Sprechoper zum | |
| Ereignis. | |
| Dabei überträgt sich die Kunst der Collage, der Steinitz und Schwitters | |
| gemeinsam frönten, als sie in Hannover lebten, bestens auf die Bühne: Julia | |
| Oschatz hat Foyer, Treppenhaus und Raumbühne des Betonbunkers Malersaal mit | |
| Gegenständen aus dem Fundus neu gestaltet, sie mit dunkelweißer, grauer und | |
| schwarzer Farbe bemalt und mit Zitaten verziert. Auf der Bühne sind | |
| bespielbare Objekte gestapelt, sodass der Kuddelmuddeltext in einer | |
| Kuddelmuddel-Installation als geistreicher Unsinn erblühen kann. | |
| In Braunschweig ist die Bühne eher leer. Allerdings ist ein Tisch als | |
| ständige Versuchung bestens gedeckt mit sieben vollen Flaschen Wein und | |
| Whisky. Die Darsteller:innen von „er“ und „sie“ sind wie Doubles von | |
| Ernst Jandl und seiner Lebensgefährtin Friederike Mayröcker hergerichtet. | |
| Gertrud Kohl zeigt eine ordnungsliebende Poetin in flüchtiger Resignation. | |
| Tobias Beyer gibt den innerlich beweglichen Anarchisten als äußerlich | |
| steifen Biedermann, dem die Lebensgeister nur beim freigeistigen Jazzen mit | |
| dem deutschen Wortschatz erwachen. Die Welt vor der Haustür erträgt er | |
| verächtlich, schluckt Antidepressiva und Schlafmittel mit Alkohol. | |
| Sein Monologisieren besteht wie das ganze Stück aus dreizeiligen Strophen, | |
| die im Konjunktiv und in der dritten Person Singular verfasst sind, also | |
| alles Gesagte in der Möglichkeitsform relativieren und vom Sprechenden | |
| distanzieren. Passend dazu agiert das Paar emotionslos mit abgezirkelten | |
| Roboter-Bewegungen. | |
| ## Text und Sprecher kommen sich wieder nah | |
| Die Inszenierung entwickelt die beiden rastlos lethargischen | |
| Sprechmaschinen aber nach und nach zu strahlend lebendigen Figuren eines | |
| autofiktionalen Jandl-Theaters, nähert also Text und Sprecher:in wieder | |
| an, lässt Identifikation zu und zeigt im melancholischen Miteinander die | |
| zärtliche Offenheit der Liebesbeziehung, während auf der Handlungsebene der | |
| immer gleiche Tagesablauf als unentrinnbares Schicksal durchexerziert wird, | |
| als „chronik / der laufenden / ereignislosigkeit“. | |
| Steinitz und Schwitters lassen einen geltungssüchtigen Astronomen den | |
| „Zusammenstoß“ eines Sterns mit der Erde und damit das Finale der | |
| Menschheitsgeschichte voraussagen. Spinnerei oder Metapher für die | |
| Tanz-auf-dem-Vulkan-Stimmung der 1920er Jahre? Frappierend sind die | |
| Parallelen zur aktuellen Endzeitstimmung angesichts der globalen | |
| Katastrophenszenerien. | |
| In Schwitters Erzählfragmenten greifen da sofort die Marktmechanismen: Alle | |
| wollen schnell nochmal profitieren. Ein Untergangsschlager wird zum Hit, | |
| Mode zur Apokalypse geschneidert, während die Menschen als Masse der | |
| Paniklust verfallen. Ein herrlich groteskes Szenario, das im Gegensatz zur | |
| Jandl-Inszenierung von grellen Typen bevölkert ist, die äußerst formbewusst | |
| die Klangeffekte der Nonsens-Volten und den satirischen Biss des | |
| antiautoritären Schabernacks feiern. In beiden Produktionen sorgt fast | |
| jeder zweite Satz für Schmunzler, Lacher, Brüller im Publikum. | |
| In Braunschweig menschelt es final, in Hamburg wird es politisch. Wenn die | |
| Katastrophe abgewendet ist, treffen sich die Schauspieler:innen zu | |
| einem A-cappella-Konzert der Steinitz-Schwitters’schen-Wortmusik, aus der | |
| hörbar wird, dass die Menschen sich nun einem starken Mann unterwerfen | |
| wollen, am besten wohl dem Zusammenstoß-Propheten. | |
| 8 Dec 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Dadaismus-am-Deutschen-Theater-Berlin/!5977678 | |
| [2] https://staatstheater-braunschweig.de/produktion/aus-der-fremde | |
| [3] https://schauspielhaus.de/stuecke/zusammenstoss-ein-hoechstwahrscheinlicher… | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
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