# taz.de -- Samischer Künstler Joar Nango: Merzen in der Mitternachtssonne | |
> Bei Joar Nango verändern sich Funktionen von Alltagsdingen. Ein Besuch | |
> bei dem samischen Künstler in Norwegen und im Sprengelmuseum Hannover. | |
Bild: Joar Nango arrangiert die Dingwelt anders. Fotografie einer Inszenierung,… | |
„This is my favourite object in the Library“, sagt Joar Nango und greift | |
nach einem Stapel Postkarten, den er zuvor in einer bricolage-artigen | |
Behausung gesucht hatte. Bücher, Alltagsgegenstände und Werkzeuge sind hier | |
mit gutem Gespür für den ästhetischen Gesamteindruck auf roh behauenen | |
Holztischchen und rentierfellbedeckten Sitzgelegenheiten arrangiert. | |
Das war vor ein paar Monaten, und der Künstlerarchitekt stand an dem für | |
die Polarregion beunruhigend heißen Junitag auf den Stufen des frisch | |
renovierten Stadtmuseums im norwegischen Bodø. Der lächelnde, sanft | |
sprechende 45-Jährige mit dem langen, grauen Zopf ließ sich gerne | |
unterbrechen von den ständig neu eintreffenden Freunden, Mitarbeiterinnen | |
oder allgemein Interessierten. | |
Bodø, der einstige Nato-Luftstützpunkt am Vestfjord, setzt trotz Putins | |
Angriffskrieg in der Ukraine nicht auf militärische Präsenz. Die Stadt | |
teilt sich in diesem Jahr mit dem österreichischen Bad Ischl und dem | |
estnischen Tartu den Titel „Kulturhauptstadt Europas“. Der 43.000 Einwohner | |
zählende Ort kann eine stärkere Hinwendung zur Kultur tatsächlich gut | |
gebrauchen. | |
Denn nachdem er [1][1940 von der deutschen Luftwaffe fast völlig zerstört | |
wurde], ist Bodø eher spröde wieder aufgebaut worden. Blanker Pragmatismus, | |
so weit das Auge reicht: Hier die schmucklos- funktionalen Bauten der | |
Nachkriegszeit, dort die No-nonsense-Einkaufspassage. Und am Hafen | |
schimmern die in den späten 2000er Jahren entstandenen Hoteltürme in der | |
Mitternachtssonne des Nordpolarkreises und warten auf Outdoor-Touristen. | |
„Kultur stärken“, das bedeutet für die Stadt neben einem schillernden | |
Mega-Eröffnungsspektakel und einem großen Sonnwendfolklore-Mitmachevent, | |
die Kunst der Sámi in den Blick zu nehmen. Es wurde auch Zeit für eine | |
kulturelle Rückversicherung, denn Bodø liegt am südöstlichen Rand von | |
Sápmi, wie die Region von Nord-Norwegen über Nord-Schweden, Nord-Finnland | |
bis zu Teilen der russischen Kola-Halbinsel von ihren indigenen Bewohnern | |
genannt wird. | |
## Ein Rock aus Rentierschädeln | |
Der internationale Kunstbetrieb [2][wurde erstmals 2017 mit der documenta | |
14] auf Vertreter:innen dieser Bevölkerungsgruppe aufmerksam, als man | |
in Kassel einen riesigen Vorhang und einen Rock aus Rentierschädeln der | |
Künstlerin Máret Ánne Sara zeigte. Sie verwies damit auf die samische | |
Wirtschafts-, Kultur- und Nahrungsquelle: nomadische Rentierhaltung. | |
Schon auf der documenta 2017 waren die künstlerischen Arbeiten geprägt von | |
Aktivismus und Folklore. Durchaus [3][nachvollziehbar bei einer Gruppe von | |
Künstler:innen], deren Familien und Vorfahren von Vertreter:innen | |
„westlicher“ Nationalstaaten das Recht auf kulturelle Eigenständigkeit | |
abgesprochen bekamen. | |
Doch besteht auch die Gefahr, dass der künstlerische Inhalt über den | |
Verweis auf die Herkunft der Schöpfer:innen nicht hinauskommt. Und da | |
die Sámikunst boomt, kommt es zudem innerhalb der Community zu unschönen | |
Rangeleien darüber, wer Same genug ist, um sich der eigenen Sache | |
künstlerisch oder kuratorisch anzunehmen. | |
Das Bodø-Museum stellte sich dieser Herausforderung zunächst einmal, indem | |
es seinen Namen einen Sommer lang in samisch „Bådåddjo/Buvvda Musea“ | |
umtaufte. Was wie eine salomonische Entscheidung aussieht, birgt jedoch die | |
Gefahr, Künstler:innen auf ihre Identität zu reduzieren. | |
## Spontane Erfindungen | |
Mit Joar Nango wurde allerdings ein Künstler-Architekt samischer Herkunft | |
gezeigt, dessen Kunst über den bloßen Selbstausweis hinausreicht. Sein | |
installatives Raumkunstwerk, das aus natürlichen Materialien besteht und im | |
Zusammenspiel mit einem Künstler -und Handwerkerinnenteam gebaut, | |
ausgestattet und arrangiert wird, konnte gerade in Bodø als Vorbild | |
leuchten, weil dies eine Stadt ist ohne sichtbare gesellschaftliche, | |
ökologische und architektonische Visionen und damit stellverstretend für | |
viele Städte weltweit. | |
Nangos Talent legt etwas Belebendes, urmenschlich-Schöpferisches frei, das | |
er in der spontanen Erfindung und handwerklich geschickten Anpassung der | |
Samen an ihre Umwelt beobachtet hat. Der Künstler stammt aus Alta in | |
Nordnorwegen und zeigt sich im Gespräch doch klar als Weltbürger, schnell | |
bereit, die von ihm als „Indigenuity“ bezeichnete kreative Grundtugend der | |
samischen ad-hoc-Erfindung als etwas Universelles zu würdigen. | |
Als Same ist Nango sozusagen von Hause aus nomadisch, und er hat dieses | |
Mobilitätsprinzip ähnlich genutzt wie viele Künstler:innen vor ihm: | |
durch Studien in Norwegen, Deutschland und den USA und durch ein Pendeln | |
zwischen Architektur und Kunst. Wenn er Anregungen aus der reichen, | |
indigenen Tradition schöpft, so scheut er sich doch nicht, seine | |
Inspiration auch in Vorbildern aus dem „Westen“ zu verorten. | |
Das begann schon in seinen frühen Jahren als Graffittikünstler, später | |
waren es die strengen Funktionsformen des Bauhauses, die Situationskomik | |
des [4][Dada-Künstlers Kurt Schwitters], Schöpfers der Idee des „merzens“, | |
des Sammeln und Verbauens von Gefundenen zu räumlichen und bildlichen | |
Collagen. Als Schülerjob führte Nango durch die Steinhütte von Kurt | |
Schwitters, der bis zur Besetzung Norwegens durch die Nazis auf der Insel | |
Hjertøya Zuflucht fand. | |
## Die nomadische Bibliothek | |
All das erzählte Nango im Rummel der Vernissage seines „Girje Gumpi“ in | |
Bodø, wie er sein ikonisches Raumprojekt, die nomadische Bibliothek, auch | |
nennt. Seit 15 Jahren baut er diese Architektur gewordene Idee eines Denk- | |
und Diskussionsortes in immer neuen Versionen: Mal wirkt die alles | |
verbindende Struktur wie ein Schiffsrumpf, mal wie ein Walfischskelett aus | |
Holz, mal wie eine Wurzelhöhle. | |
In jedem Fall entsteht der Eindruck, als laufe man durch ein dicht | |
verzweigtes, organisch gewachsenes Gebilde, das voller Überraschungen | |
steckt. Dabei wird die Vorstellung von nachhaltigem Handeln, nachhaltigem | |
Bauen und verantwortlichem Urbanismus direkt mit Händen greifbar. Das | |
improvisierende Gestalten mit gefundenen Materialien wird genauso gefeiert | |
wie das Herstellen von Gemeinschaft. | |
Beim Rundgang kommt auch der eingangs erwähnte Kartenstapel ins Spiel. Der | |
ist gewissermaßen die Essenz von Joar Nangos Kunst. Es ist ein Set von 55 | |
Fotos im Postkartenformat, zusammengehalten von einem Plastiknetz, das wir | |
als Flaschen-Stoßschutz kennen. Wer die Karten auffächert, entdeckt eine | |
beispiellose Fülle an umfunktionierten Dingen, die in ihrer Umwidmung ein | |
Eigenleben, oft eine Eigenkomik entwickeln: die halbvolle | |
Cola-Plastikflasche, die als Messer-Entroster dient, wirkt, als wolle sie | |
sich eigenmächtig neuen Aufgaben zuwenden. | |
Die reizvoll gesägten Baumstämme für die traditionelle Filzproduktion | |
scheinen sich eitel ihrer Schönheit bewusst zu sein. Und ein rotierender | |
Betonmischer mit angeschweißten, rot leuchtenden Metallflügeln hat als | |
endlos rotierende Rentier-Scheuche etwas Absurdes. | |
## Ausstellung im Sprengelmuseum Hannover | |
All diese Dinge sind fotografisch so in Szene gesetzt, als seien sie stets | |
als albern-künstlerische Werke intendiert gewesen. Anlässlich der | |
Verleihung des Kurt Schwitters Preises 2024 an Joar Nango zeigt das | |
Sprengelmuseum eine Schau des Künstlers. Hier schweben einige der | |
beschriebenen Fotos auf weiße Fahnen gedruckt im Raum und sind zu weiteren | |
Fantasieräumen oder lustigen Gebrauchsobjekten aus Metall, Fell, Holz oder | |
Fischmagen in ästhetische Spannung gesetzt. | |
Licht- und Schatten bringen das Raumgefühl in produktive Unordnung. Sein | |
„Girje Gumpi“ wird auf die Idee eines deutschen Hinterhofs übertragen, als | |
Sammelbecken, Begegnungsort und ästhetisch geordnetes Chaos. Das alles ist | |
durchwirkt von einer unterschwelligen Situationskomik. Kurt Schwitters | |
hätte seine Freude daran. | |
7 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Gaby Hartel | |
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