# taz.de -- Elektronikfestival in Nordnorwegen: Wind stärkt die Gemeinschaft | |
> Wo Trolle Kunst machen. Das Festival Insomnia im norwegischen Tromsø | |
> vereint die arktische Natur der Region mit zeitgenössischem | |
> Elektroniksound. | |
Bild: Lias Saoudi, rechts, und die drei Produzenten von Decius in Tromsö | |
Im Tal beginnt die Wanderung einer hippen Gilde. Da die Sonne bereits um 17 | |
Uhr hinter einem Bergmassiv verschwunden ist, dämmert es. Nieselregen setzt | |
ein, im arktischen Teil Norwegens ist es mit Temperaturen unter 10 Grad | |
Celsius – hallo Klimawandel – mild. | |
150 Personen machen sich vom Parkplatz auf ins Hochtal Tromsdalen zum | |
Auftakt des Elektronikfestivals Insomnia, das alljährlich in der Stadt | |
Tromsø stattfindet, dieses Jahr zum 23. Mal. Ziel ihrer Wanderung ist eine | |
Freilichtbühne unterhalb des Bergs Fløya. Er wird nach einem sanft | |
ansteigenden Weg vorbei an Gestein und gluckernden Bächlein erreicht. | |
Wild, schön und launenhaft präsentiert sich die norwegische Natur, sodass | |
man zunächst gar nicht Notiz nimmt von einer grotesken Fantasiegestalt, in | |
weiße Wolle und Plastikfolie gehüllt, die sich am Hang zu schaffen macht. | |
Zwischen Baumstümpfen hampelt dieser Zerberus in der Berglandschaft. | |
## Ächzen wie Zwergbirken | |
Ein Lautsprecher, von einem Regenschirm geschützt, funkt seine | |
Lautäußerungen. Was niedlich beginnt, wird zunehmend furchteinflößend und | |
ist Teil einer Performance der Künstlerin Marita Isobelle Solberg. Je nach | |
Wind und Wetter moduliert sie ihre Stimme, ahmt das Bellen von | |
vorbeistreunenden Hunden nach, pfeift wie ein Murmeltier und ächzt wie | |
Zwergbirken im Wind. Man fühlt sich an die Sage vom Troll erinnert, der im | |
Eis eingeschlossen ist und den Sturm herbeibläst. | |
Das Eis ist geschmolzen und von weiter oben dringen Lichtblitze heran, | |
pumpende Bässe schicken wollüstige Signale gen Tal und saugen die | |
Wandersleut in ihren Klangschirm. Nach weiterem Aufstieg erreicht man ein | |
Hüttendorf, bestehend aus einem Rundhaus, Zelten und kleineren Behausungen. | |
Oben am Hang prasselt ein Lagerfeuer. | |
Die Hütten sind nach alter Saami-Tradition errichtet, aus Totholz und | |
Bauschutt. Ältere Herren in Warnwesten schenken heißen Kaffee aus | |
Thermoskannen aus. Auf Tischen wird Obst gereicht. In der Rundhütte | |
knistert ein wärmendes Feuer, während draußen an der Open Air Bühne | |
„Freidigtunet“ die junge DJ O. Blom anheizt. | |
## Eukalyptusbonbons lutschen wollen | |
Sie spielt ein zackiges Pingpong zwischen klassischem Elektro und Techno, | |
Musik, zu der man Eukalyptusbonbons lutschen möchte. Vielleicht sind es 250 | |
Raver:innen, die meisten in Funktionskleidung und Trekkingschuhen. Feiern | |
wird hier kommunal interpretiert, Getränke werden geteilt. Die Stimmung ist | |
Bombe, obwohl der Regen stärker wird und dazu ein auffrischendes Lüftchen | |
aus Nordost weht. | |
„Aus dem Flüstern der Natur entsteht Kreativität; uralte Bäume biegen sich | |
im Wind und geheime Gipfel wecken die Geister des Lebens“, Fäuste werden | |
gen Himmel gereckt, als Anette Tunheim Jacobsen, ehemalige Leiterin des | |
Festivals, ein programmatisches Poem anstimmt, halb Gedicht, halb | |
touristische Ansprache, ein bisschen Kitsch, egal, der Funke springt über. | |
Ihr beschwörendes Timbre wirkt angenehm unaufgeregt. Dazu neigen sich die | |
umliegenden Baumwipfel. „Insomnia ist eine Wallfahrt zur Essenz dessen, was | |
wir sind. Unser Leben unterm weiten Himmel einer Natur, deren Rituale das | |
Gemeinschaftsgefühl stärken, in einer Zeit, die uns auseinanderdividiert.“ | |
## Stadt der Freaks und Fantasten | |
Als DJ Charlotte Bendiks die Regler hochzieht und die Tänzer:innen zum | |
Takt ihrer Beats wogen, wird klar: „Outsiders“, das Motto dieses | |
frühabendlichen Abends, spielt mit dem Ruf von Tromsø, eine Freakstadt zu | |
sein. Man trifft hier interessante Typen, den Portugiesen Diogo Rocha | |
Marquesa etwa, ehrenamtlicher Helfer des Festivals, der in Tromsø als | |
Tierarzt arbeitet, aber auch einen Dokumentarfilm über ein Mietshaus dreht. | |
Oder Tata aus Georgien, die für das Tifliser Onlineradio Mutant Liveshows | |
aufzeichnet. Glücklich vereinte Außenseiter, die für ihre Passion zur | |
elektronischen Musik viel auf sich nehmen. | |
Tromsø gilt [1][als Wiege der elektronischen Musik in Norwegen. | |
Bekanntester Vertreter ist Geir Jenssen, der unter dem Alias Biosphere] | |
seit einem Vierteljahrhundert die Intensität der kargen arktischen | |
Landschaft mit dubbigem und jazzigem Ambient vermisst. Echos dieses | |
Trademarks blinken auch im Sound des Duos Munk aus Tromsø auf, dessen | |
minimalistisches Setup enorme Wirkung entfaltet. | |
Produzent Erlend Skotnes treibt mit Cowbells und Handclaps den virtuosen | |
Gesangsvortrag von Sänger Gustav Eidsvik an, der seine exakt gesetzten | |
Kadenzen mal als Rap, mal im [2][leisen Björk’schen Sings]ang vorantreibt. | |
Nichts wirkt verkünstelt, die Sprödheit von Munk spendet Power. Vielleicht | |
hat der Troll doch etwas bewirkt, denn gegen 21.30 Uhr begleiten Hunderte | |
flatternde Motten wie in einem Animé-Film den Abstieg durch die | |
Nachtlandschaft. | |
## Auf Snowmobil räkeln | |
Geflattert wird bei der tanz-, musik- und filmgestützten Performance und | |
Ausstellung „Queerilainen“ im Kunstraum „Kurant“ am nächsten Tag zwar | |
nicht, aber dermaßen lasziv Holz geschnitzt, mit der Motorsäge geflext und | |
sich am Snowmobil im Schuppen geräkelt, zu finnischem Tango und Eurotrash | |
mit Bergseilen, Haken und Ösen getanzt und dazwischen beseelt gegrunzt, | |
dass auch da magische Kräfte am Werk sein müssen. | |
Einerseits knackt „Queerilainen“ als Performance zweier Frauen Mythen von | |
nordischer Männlichkeit auf, es ist das Projekt der Tänzerin Eva Svaneblom | |
und der Autorin Kjersti Feldt Anfinnsen (alias DJ Saunasatan), zum anderen | |
entkrustet das Duo Brauchtum vom Erdigen. Trachtenutensilien tauchen | |
genauso auf wie Nippelpatches und Hotpants. | |
Beide Künstlerinnen gehören Minderheiten an, deren Kultur und Sprache bis | |
vor Kurzem von den Bevölkerungsmehrheiten in Skandinavien diskriminiert | |
waren. Die in Tromsø lebende Schwedin Svaneblom ist Tornedalfinnin und | |
Anfinnsen Kvenin, so wird die finnische Minderheit in Norwegen genannt. | |
Aber es geht den beiden [3][nicht um identitäre Kleinstaaterei, sondern um | |
die tiefere Verankerung von vernachlässigten Positionen] mit popaffiner | |
Inszenierung im Mainstream. | |
## Zerberus auf Strumpfsocken | |
Auch das Londoner Quartett Decius verweist bei seinem Auftritt auf queere | |
Hintergründe im Dancefloor, zelebriert seinen feisten Acidhousesound, aber | |
mit diabolischer Lust am Drastischen. Blickfang ist Sänger Lias Saoudi (den | |
man auch von Fat White Family kennt). Nur in Strumpfsocken, mit | |
S/M-Ledertanga und Brustgurt bepackt, gibt er den Iggy Pop, während seine | |
drei Mitstreiter mit unbeweglicher Miene eher an Hospitanten im | |
Priesterseminar erinnern. | |
Deren fiepende und jaulende Sequenzer bringen Saoudi auf Trab. Er spuckt | |
Speichelbällchen auf die Bühne malträtiert den Mikrofonständer mit | |
Weltekelblick, bis das Ding in sich zusammengefallen am Bühnenrand landet. | |
Dann geht die Party aber erst richtig los, Saoudi fesselt sich mit dem | |
Kabel und hat das Mikro als metallischen Phallus am Wickel: Wichsen ist Pop | |
und Tromsø völlig aus dem Häuschen. Danach muss ich dringend an die Luft | |
und schaue nach den Sternen. | |
Im Keller packt etwas später die tunesische Technoproduzentin Azu Tiwaline | |
die Bigroom-Peitsche aus. Leicht angeschranzt und zugleich superstraight | |
pflügt sie wie ein Eisbrecher durch die Barentsee, besonders die finnische | |
Gemeinde bricht in Jubelstürme aus. Die Leute tanzen, speichern Energie, | |
wenn ab November Sonnenlicht Mangelware wird. | |
## Knispeln zur Peakhour | |
[4][Dass die italienische Freejazzdrummerin Valentina Magaletti] und die | |
holländische Elektronikproduzentin Upsammy (Thessa Torsing) am letzten | |
Festivalabend zur Peakhour die Bühne entern, ist, was den Zeitpunkt | |
anbelangt eine mutige Entscheidung. Die Leute wollen eigentlich tanzen, | |
aber Magaletti und Upsammy bleiben eher im untertourigen Bereich, knispeln | |
kleine Toncluster und treiben muntere Improvisationsspielchen zwischen Jazz | |
und Ambient. | |
Wenn dann memorable Rhythmusmuster und Synthpatches starten, werden diese | |
schnell wieder verworfen. So schwillt das Gemurmel im Publikum an, bis | |
Magaletti ans Vibrafon wechselt und mit schlierigem Polarlichtgeklöppel | |
doch noch die Aufmerksamkeitskurve kriegt. | |
Vor der Tür der Konzerthalle nageln die Spikes der Autoreifen eine sirrende | |
Sinfonie auf den Asphalt, Alltagsgeräusche werden bewusster wahrgenommen, | |
dem Insomnia-Festival sei Dank. Sein Karma war durch die arktische | |
Naturerfahrung deep, davon werde ich im Winter zehren. | |
Transparenzhinweis: Das Festival Insomnia hat die Recherche unterstützt | |
25 Oct 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://biosphere.bandcamp.com/album/dropsonde-reissue-with-bonus-album | |
[2] /Bjoerk-Konzert-in-Hamburg/!5974839 | |
[3] /Samischer-Kuenstler-Joar-Nango/!6034887 | |
[4] /Drummerin-Valentina-Magaletti-im-Portraet/!6043819 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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