| # taz.de -- Wie weiblich ist der Dancefloor?: Noch mehr Frauen ans DJ-Pult | |
| > Geschlechterparität mag auf der Tanzfläche längst Realität sein, was DJs | |
| > angeht, ist viel Luft nach oben. Ein Zustandsbericht am Beispiel Berlin. | |
| Bild: Lässt das Vinyl knistern: Barbara Preisinger | |
| Schnelle, harte Kicks, die den Puls hochtreiben, darüber das Echo eines | |
| Melodiefetzens, flirrend verzerrter Gesang, darunter mächtige Basstöne, die | |
| im Unterleib wummern. „Remote Controle“ von DJ Simina Grigoriu ist eine | |
| Ganzkörpererfahrung. Die Veröffentlichung ihrer neuen EP kündigt sie ihren | |
| 265.000 Followern auf Instagram so an: „Hi, it’s Simina. I am happy to | |
| announce my new project!“ In Leggins und Moonboots, mit einnehmendem | |
| Lächeln, zeigt sie sich vor dem Set-up ihres Studios. An der Wand hängt | |
| eine Weltkarte. | |
| Noch vor zehn Jahren wäre dies ein ungewöhnliches Bild gewesen, denn in der | |
| Dancefloorszene gaben seit den späten 1980ern meist Männer den Ton an. | |
| Inzwischen hat sich die Lage gewandelt. Immer mehr Frauen nehmen die | |
| Turntables als DJs für sich ein und bereichern die elektronische | |
| Musikkultur mit ihren Perspektiven und Sounds. | |
| [1][In fast 20 Jahren als DJ, Produzentin und Labelbetreiberin] hat | |
| Grigoriu zu ihrer eigenen musikalischen Formensprache gefunden, die vor | |
| allem in den tiefen Frequenzen zu Hause ist: „Je tiefer der Sound wird, | |
| desto mehr fährt er in den Bauch, und genau das ist es, was die Hüften zum | |
| Schwingen bringt“, erklärt die in Berlin lebende rumänisch-kanadische | |
| Künstlerin. Ihre Musik beschreibt sie als „Techno mit Herz“. | |
| ## CD vom Straßenhändler | |
| Auslöser für Simina Grigorius Liebe zur elektronischen Musik war ein | |
| Zufallsfund: Als 11-Jährige kaufte sie einem Straßenhändler eine CD ab – es | |
| war das Album „The Experience“, der britischen Raver The Prodigy, die | |
| prägend für den englischen Dancefloor der 1990er waren. | |
| Als Jugendliche folgten intensive Partynächte in den Techno-Clubs Torontos. | |
| Irgendwann entschied sie: „Ich will nicht nur zu dieser Musik tanzen. Ich | |
| will sie selber machen.“ Um die Jahrtausendwende eine mutige Entscheidung | |
| für eine junge Frau, denn in der Technoszene gaben damals Männer den Ton | |
| an. „Vielleicht eine von 15 DJs war weiblich“, erinnert sie sich. | |
| Heute gehört sie dazu. Nach ihrem Umzug nach Berlin im Jahr 2008 tourte sie | |
| von Basel bis Ibiza [2][durch europäische Clubs und darüber hinaus]. | |
| Parallel dazu begann sie, eigene Tracks zu veröffentlichen. 2016 gründete | |
| sie ihr eigenes Label Kuukou. 2022 wurde sie als einzige Frau auf der | |
| NFT-Plattform „Crypto-DJ“ verewigt – dort kann man limitierte digitale | |
| Sammelkarten mit den Gesichtern berühmter Techno-Künstler:innen erwerben. | |
| Direkten Kontakt mit ihren Fans will sie trotzdem nicht missen. Ihre | |
| Mission wurzelt in den utopischen Anfängen der Techno-Bewegung: „Mit meiner | |
| Musik will ich Liebe und Euphorie verbreiten. Wenn die Leute ein Gefühl der | |
| Freiheit erleben, hab ich meinen Job gemacht. Und damit meine ich nicht das | |
| oberflächliche Freiheitsgefühl, nachdem man Ecstasy eingeworfen hat, | |
| sondern echtes Dopamin!“ | |
| ## Fürs Knistern schwärmen | |
| Von Anfang an dabei war auch Barbara Preisinger. Erst in der Münchner | |
| Technoszene, wo sie beim Label Disko B arbeitete, dann nach ihrem Umzug | |
| nach Berlin prägte sie seit Ende der 1990er Jahre die Clublandschaft der | |
| Hauptstadt und legt regelmäßig in Clubs wie WMF, Maria am Ostbahnhof und | |
| Club der Visionäre auf. 2015 zog sie mit ihrer monatlichen Party-Reihe | |
| „Deep in the Box“ in den Tresor. Lampenfieber hat sie heute noch: „Zu | |
| Beginn bin ich immer ziemlich nervös, egal wo ich spiele.“ | |
| Erste Schritte als DJ tat sie in den früher üblichen Chill-out-Räumen, wo | |
| entspanntere Spielarten von elektronischer Musik aufgelegt, aber auch | |
| musikalisches Neuland erkundet wurde: „Ich hab mich erst mal mit | |
| experimentellen Sachen ausgetobt, die für den großen Dancefloor gar nicht | |
| so funktioniert hätten.“ | |
| ## Je hypnotischer, desto deeper | |
| Was sie kann, hat sie sich selbst beigebracht oder von Kolleg:innen | |
| abgeguckt. „Es ging mir damals gar nicht um Karriere, sondern um Spaß.“ | |
| Inzwischen hat sich ihr Sound zu einer verspielten, tanzbaren Mischung aus | |
| hypnotischem Deephouse und minimalem Tech-House entwickelt. Als Kind der | |
| 90er legt Preisinger bis heute gerne auch ihre alten Platten auf. „Ich | |
| finde das Haptische daran immer noch großartig. Platten haben einen | |
| wärmeren Sound, ich mag auch ihr leichtes Rauschen und Knistern“, schwärmt | |
| sie. | |
| Dem digitalen Boom der frühen nuller Jahre setzte sie etwas Analoges | |
| entgegen und gründete 2009 Slices of Life, ein Label, das House- und | |
| Technotracks auf Vinyl presst – Dancefloormusik zum Anfassen. Als Frau an | |
| den Turntables provozierte sie in ihren Anfangsjahren bei Kollegen und | |
| Club-Gästen zweifelhafte Komplimente. „Da hab ich schon oft so was gehört | |
| wie: Für eine Frau ist das ja wirklich super, was du machst. Solche Sprüche | |
| sind in den letzten Jahren zum Glück weniger geworden.“ | |
| Das liegt auch daran, dass Frauen an den Decks alltäglich sind. Laut einer | |
| Studie des Netzwerkesfemale:pressurewaren in 175 weltweiten | |
| elektronischen Musikfestivals des Jahres 2023 immerhin 29,8 Prozent der | |
| Auftretenden weiblich. Im Jahr 2012 waren es gerade mal 9,2 Prozent. | |
| Female:pressure räumt allerdings ein, dass nicht alle Institutionen | |
| gleichermaßen Wert auf Geschlechtergerechtigkeit legen: „Größere Festivals | |
| haben tendenziell einen geringeren Anteil an weiblichen und nichtbinären | |
| Acts. Öffentlich finanzierte Festivals und Festivals mit künstlerischen | |
| Leiterinnen haben einen höheren Anteil an Künstlerinnen.“ | |
| Der Kampf um Parität ist trotzdem noch nicht ausgefochten. Zudem sagen | |
| Zahlen wie diese nichts darüber aus, ob Musikerinnen vertreten sind, die | |
| queer oder nichtweiß sind und deshalb neben ihrem Geschlecht auch aufgrund | |
| von Hautfarbe oder Sexualität diskriminiert werden können. | |
| Um gerade diesen doppelt-marginalisierten Identitäten zu mehr Sichtbarkeit | |
| zu verhelfen, nutzt die Berliner DJ Sherin Striewe unter dem | |
| Künstler*innennamen Sherryaeri Auflegen als kreative politischen | |
| Praxis – oder wie es auf Striewes Website heißt: als „aktivistische Waffe | |
| für intersektionalen Feminismus“. Sherin Striewe ist im Vorstand von Music | |
| Women* Germany und gründete die Eventreihe „Rage ’n’ Bounce“, bei der | |
| FLINTA* an einem sichereren Ort tanzend ihre Wut über das Patriarchat | |
| rauslassen dürfen. | |
| In Frankfurt kuratiert Striewe das Kollektiv Crémant.Cava. Booty Bounce – | |
| kurz CCBB, dessen Partys eine Bühne bieten für (queere) BI*PoC FLINTA*, | |
| also vom Patriarchat marginalisierte Geschlechtsidentitäten. Striewe | |
| glaubt, dass deren Stimmen im Mainstreambetrieb oft untergehen. | |
| ## Erste Reihe reserviert | |
| „Die Clubszene hat ein riesiges Potenzial für gesellschaftlichen Wandel. | |
| Schaut man in die Geschichte von Techno, HipHop und House, stellt man fest, | |
| dass diese Musik von Schwarzen aus dem Widerständigen herauskam – vor allem | |
| auch von queeren Schwarzen“, erklärt Striewe die Motivation hinter den | |
| beiden Herzensprojekten. „Bei CCBB haben wir die Regel, dass die ersten | |
| Reihen vor dem DJ Pult für BI*PoC FLINTA* reserviert sind. „Wir wollen | |
| keine Cis-Dudes vornedran und keine weißen Menschen.“ | |
| Leute, die laut Striewe mehr Privilegien haben, sollen so lernen, auch mal | |
| zurückzutreten. Und Leute, die es nicht gewohnt sind, in der ersten Reihe | |
| stehen zu dürfen, werden empowert. „Vielen BI*PoC FLINTA* wurde | |
| beigebracht, dass ihr Platz am Rand ist. Wortwörtlich.“ | |
| Auch was für Musik gespielt werde, mache in Sachen Inklusion einen großen | |
| Unterschied: „Ich spiele viele Tracks, die aus meiner eigenen Identität | |
| kommen. Ich bringe auch arabische Musik oder Deutschrap mit und öffne damit | |
| Räume für migrantisierte Menschen. Ich spiele bewusst genreübergreifend, | |
| weil es mir wichtig ist, so viele Lebensrealitäten wie möglich auf die | |
| Tanzfläche einzuladen. Als Bildungsreferent*in/Trainer*in ermutigt Sherin | |
| Striewe auch andere, DJing als Mittel der Selbstwirksamkeit zu entdecken. | |
| Zu ihnen gehört auch die 19-jährige Aylin Akpinar aus Berlin-Moabit, die im | |
| Verein „Wir im Brunnenviertel“ im Bezirk Wedding ihren | |
| Bundesfreiwilligendienst absolviert. Während eines Workshops, der | |
| Begegnungen zwischen jüdischen und muslimischen Jugendlichen vermittelte, | |
| probierte sie sich erstmals am DJ-Deck aus und war sofort Feuer und Flamme | |
| – auch, weil sie die seltene Gelegenheit witterte, mittels Musik Raum zu | |
| nehmen und das Wort zu ergreifen: „Bei dem Wort DJ habe ich mir immer | |
| einen Mann vorgestellt, ich hätte nie gedacht, dass ich selbst diesen Weg | |
| einschlage.“ | |
| Aylin brennt für einen Mix aus türkischer Popmusik und K-Pop. Mit ihrem | |
| eigenwilligen DJ-Mix möchte sie auch Sprachbarrieren überwinden: „Man muss | |
| nicht immer den Text verstehen oder die Sprache sprechen, um ein Lied zu | |
| fühlen.“ | |
| 10 Apr 2025 | |
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| [1] https://www.siminagrigoriu.com/ | |
| [2] /Neue-Musik-aus-Berlin/!6068546 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Schors | |
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