| # taz.de -- Britische Indie-Plattenfirma él Records: Verabredung mit Venus | |
| > Ein Buch und ein Sampler bringen die verwunschene Seltsamwelt des | |
| > britischen Indie-Labels él Records zurück. Seine Popsongs wirken auch | |
| > heute betörend. | |
| Bild: Louis Philippe: im Dayjob Sportjournalist | |
| Sie wollen sich verlieben? Warum nicht in eine Firma? Teile der | |
| bürgerlichen Welt hatten bald nach der Französischen Revolution 1789 | |
| bemerkt, wie sehr eine Identifikation bereichern kann, die weniger auf | |
| Genen und Herkunft gründet, aber umso mehr auf freier Wahl. Zunächst | |
| markierten ab Ende des 18. Jahrhunderts exzentrische Kleidungsstile das | |
| neue Ich, dann behaupteten etwas später kleine Verlage wie Kelmscott Press | |
| in England und der 1901 gegründete deutsche Insel-Verlag, in aufwendig | |
| gestalteten Büchern nur das Lesenswerteste ihrer Zeit zu bieten. | |
| Was die Buchkunstbewegung um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. | |
| Jahrhundert lehrte, machten dann nach 1945 US-Jazz-Plattenfirmen wie Blue | |
| Note und Impulse! zum Prinzip: Sie schufen eine wiedererkennbare Ästhetik | |
| durch Coverart. Dieser Stil zwischen Corporate Identity und Individualismus | |
| ermöglichte neue Bedeutungen wie auch Zugehörigkeit und flüsterte den | |
| Konsumenten zu: „Collect them all!“ | |
| Was das nun mit einer unabhängigen britischen Plattenfirma der mittleren | |
| 1980er Jahre zu tun hat? Ihr Œuvre bekräftigt den Eindruck, dass in der von | |
| ihr veröffentlichten Musik der Schlussakkord jener dandyesken Geisteswelt | |
| erklingt, welche die Hochkultur mit Oscar Wildes, von Aubrey Beardsley | |
| illustrierten Büchern assoziiert. Der verschrobene Größenwahn des kleinen | |
| Labels él Records, wie soll man ihn heute erklären? Vermutlich ist Ihnen | |
| keiner seiner Künstler bekannt – das Popbusiness kann wirklich unbarmherzig | |
| sein! | |
| Auch um diesen Missstand zu beseitigen, bringt das Hamburger Indie-Label | |
| Tapete mit einer vom einstigen él-Impresario Mike Alway zusammengestellten | |
| Compilation diese unglaublich seltsame Plattenfirma und ihre Musik nahe. | |
| Zusätzlich veröffentlicht der Mainzer Ventil Verlag das Buch „Bright Young | |
| Things. The Art and Philosophy of él Records“ von Mark Goodall im | |
| englischen Original. | |
| ## Chorknaben, Häretiker, weinbeseelte Bakchen | |
| Willkommen also in einer exzentrischen Welt mit ihren Chorknaben, | |
| Häretikern und weinbeseelten Bakchen, die unentwegt durch das Bild toben. | |
| Mythos und Religion im Pop? Absolut! [1][Da war der bowiedünne schottische | |
| Jacques-Brel-Wiedergänger Momus, der mit samtener Stimme über | |
| Sadomasochismus sang und Bibelverse so süffisant wie kenntnisreich | |
| kommentierte]. | |
| Schon der auf seinem Debütalbum abgedruckte Slogan „The old testament to | |
| the new instruments“ beschrieb das Unterfangen von él Records perfekt. Die | |
| junge, nach einem Film benannte Sängerin Anthony Adverse wiederum verband | |
| Barbra Streisands Grandezza mit sphinxhafter Distanziertheit. Marden Hill | |
| wirkten wie Mods des 19. Jahrhunderts, aber ihr Easy-Listening-Revival war | |
| dem Hype um mindestens zehn Jahre voraus. Und Ex-Teen-Star Simon | |
| Fisher-Turner schuf für él Avantgardistisches oder aber swingenden Sixties | |
| Pop unter dem Alias King of Luxembourg. Ferner traf man auf den charmanten | |
| Punkpionier Vic Godard (Subway Sect) und auf den sinistren | |
| Multiinstrumentalisten Karl Blake, dessen Bandprojekte Shockheaded Peters | |
| und The Underneath in der britischen Tradition des Satanismus grimmten. | |
| Doch vor allem war da Louis Philippe, ein zarter Surfpop-Träumer in einer | |
| französischen Kathedrale. Er sang in himmlischer Reinheit, auch von den | |
| Passionen seines Labelchefs. Louis Philippe verquickte die Handlung eines | |
| Orson-Welles-Films mit Fußballleidenschaft zu Visionen dionysischer | |
| Ekstase: „It’s a man’s life worth a game of football / Or the touch of ev… | |
| / Ba-ba-di-du / Women cheered and trumpets blew.“ | |
| Das Lustige ist, manchem Teenager der 1980er erschien das alles überhaupt | |
| nicht die Bohne seltsam. Viele der unabhängigen, in der Folge von Punk | |
| entstandenen kleinen Plattenfirmen boten ein klares Image: Da war die | |
| strenge Eleganz mit subversiven Anliegen von Factory Records (Joy Division, | |
| New Order) oder der düstere Pfauenfedernschimmer des verträumten 4AD-Labels | |
| (Cocteau Twins, Dead Can Dance). | |
| ## Sie wollten ein cooles Imageding gestalten | |
| [2][Schon vor seinem él-Projekt war der junge Mike Alway verantwortlich für | |
| die melancholischen Zartheiten des Labels Cherry Red, das etwa die ersten | |
| Werke des Duos Everything but the Girl veröffentlichte]. Den Majors blieb | |
| der Reiz der jungen Musikmogul nicht verborgen. Warner Brothers wollte sich | |
| auch so eine Firma basteln. Zu diesem Behufe luden sie Opinionleader Geoff | |
| Travis vom Post-Punk-Label Rough Trade (The Smiths) ein, und Cherry Reds | |
| Mike Alway sowie Michel Duval vom belgischen Label Les Disques du | |
| Crépuscule, um ein cooles Imageding zu gestalten. Doch die Episode endete | |
| ernüchternd für Alway, aber immerhin mit mehr Geld in der Tasche – genug | |
| Knete, um seine eigene Vision zu realisieren. | |
| Davon berichtet auch Mark Goodalls in seinem Labelporträt in Buchform: | |
| „Bright Young Things – The Art and Philosophy of él Records“ skizziert d… | |
| musikhistorische Umfeld, lässt die damaligen Akteure zu Wort kommen und | |
| widmet sich en détail jeder einzelnen Veröffentlichung. | |
| Allein, er führt als Pop-Historiker den Ball meist etwas zu nah am Fuß. | |
| Ging es doch eigentlich um große Träume, um die bessere Welt im Angebot des | |
| Plattenladens. Niemand hatte dieses Image so gekonnt getriggert wie die | |
| erwähnten Belgier von Les Disques du Crépuscule. Beneidet von britischen | |
| Labelmachern, wurden sie zum Vorbild für Mike Always él-Projekt. Doch ihre | |
| Segel waren 1980, kurz nach Punk, von der Energie zig neuer | |
| Musikentwicklungen gefüllt. Es gab noch Zukunft. | |
| Él wiederum markiert den Moment, in dem Revivals das Ruder im Pop | |
| übernahmen. Barocke Musketiere und gerüstete Ritter, die gemeinsam | |
| musizieren, wie im Promotionfilm des 1965er Yardbirds-Hits „For your Love“; | |
| der Song „Valerie“ der Monkees (1966), den jedoch | |
| Rokoko-Mandolinenvirtuosen von seinem „Satisfaction“-Riff erlösen oder | |
| Schauspielikone Kirk Douglas, der sich 1953 am Strand von Cannes aus | |
| Brigitte Bardots langen Haaren einen Schnauzbart formt, so sollte die | |
| él-Welt sein. | |
| Rock galt in den frühen 1980ern als tot. Intensiver als das feminine | |
| Crépuscule zeigte él noch einmal, wie man als junger Mann sein konnte: | |
| versponnen, exzentrisch, wissensverliebt, aber brüllenden Gitarren, | |
| Machokult und Hemd über der Hose abhold. Leider übernahmen letztgenannte | |
| Attribute just wieder das Ruder. Die Kids von heute tragen halt keine | |
| Momus-, sondern Nirvana-Shirts. | |
| ## Für eher kühne Hörer | |
| Nein, die Zeit war wohl nicht reif, egal, wie viele wundersame Songs aus | |
| Momus’ und Louis Philippes Feder auch flossen. Vielleicht forderten sie | |
| einfach zu viel. Auf der Compilation erklingt Momus’ gewundenes Meisterwerk | |
| „Paper Wraps Rock“, eine allegorische Kritik der medialen Konstruktion | |
| überlebensgroßer „Göttinnen“. Der Song funktioniert aber, ganz unmittelb… | |
| gelesen, viel besser als Lob angelikaler Abstinenz: Rühr mich nicht an! Im | |
| Verdikt seiner Coda watscht er den immer notgeilen Jungmann ab: „She will | |
| forget you in all except your name.“ Das fragte schon nach eher kühnen | |
| Hörern. | |
| Man sollte diese tolle Compilation als erstes um einen Erwerb von Louis | |
| Philippes Debütalbum „Appointment with Venus“ ergänzen. Wo andere nur | |
| stylische Soundklischees schufen, vermochte Philippe als Einziger je an die | |
| Ideen von Beach-Boys-Mastermind Brian Wilson anzuknüpfen. In seinen | |
| magischsten Momenten war der Sound von él Records originell und bar | |
| jeglichen Klischees. | |
| Heute erinnern seine Musik und seine Ästhetik an eine Zeit, in der Pop noch | |
| forderte, dass, wo Geisteswelt war, auch Lebenswelt werden sollte. Und das | |
| Echo? [3][Louis Philippe wurde unter seinem bürgerlichen Namen Philippe | |
| Auclair zwar kein Popstar, aber ein bekannter, investigativer | |
| Sportjournalist.] Ein neues Album von ihm ist ebenfalls bei Tapete Records | |
| in der Pipeline. Die, wie einst auf seinem Debüt, 14 Songs finden ihre | |
| Herausforderung gegenwärtig nicht mehr in großen, eindeutigen Statements. | |
| Die befremdlichen Elemente sind nun subtile rhythmische Finessen, um | |
| unmögliche Beats, pochende und klackernde Sounds herum erdacht. Die Musik | |
| fragt: Wie weit kann ein wohlklingender Song gehen? In „Pictures of Anna“ | |
| erhebt sich [4][die Melodie aus einem dramatischen Thema, entliehen den | |
| brasilianischen Größen Milton Nascimento und Deodato], um dann mit den | |
| wippenden Pferden eines Holzkarussells zu tanzen. | |
| Doch jede Freude begleitet nun die Einsicht in Verluste „When did you go | |
| wrong?“, fragt Philippe. Seine Antworten erklingen als zarte Dissonanzen. | |
| In den „Uhhs“ und „Ahhs“ der Backgroundchöre gehen Geister ein und aus… | |
| in einem eleganten britischen Horrorfilm der 1940er. Die Musik ist erfüllt | |
| vom Goldenen Zeitalter des Pop. Nur manchmal vermisse ich die Verheißungen | |
| offener Enden, vielleicht ist es das Vermissen der él-Jugend. | |
| 15 Apr 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Oliver Tepel | |
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