| # taz.de -- Labelporträt Papercup Records Köln: Verschlungene Wege zum Erfolg | |
| > Größer denken, über die Musik hinaus: Ein Porträt des Indie-Labels | |
| > Papercup und seiner beiden Macher Keshav Purushotam und Steffen Wilmking. | |
| Bild: Keshav Purushotam und Teile seiner Band Keshavara | |
| Gleich mal eine These: Mit dem Ende des modernen Musikfernsehens in | |
| Deutschland ist der Antrieb verloren gegangen, Popmusik hierzulande in | |
| einem größeren Rahmen als ausschließlich in seiner schnellen | |
| Vermarktungsfähigkeit zu denken. Die Funktionalität der vergleichsweise | |
| wenigen Musikvideos, die noch gedreht und veröffentlicht werden, ist | |
| erstaunlich einseitig. | |
| Selbst auf dem HipHop-Markt, wo lange Zeit extravagante Clips als | |
| Statussymbole galten, ist die Vorkonfektionierung heutzutage erstaunlich: | |
| Autos, Geld, Kampfhunde, Tattoos. Wirklich überraschende Bilderwelten sind | |
| selten geworden – warum auch, wenn das Filmmaterial später aus Ermangelung | |
| an Alternativen doch nur im Netz bei Youtube landet? | |
| Bei der Kölner Band Keshavara und ihrem Mastermind Keshav Purushotam sieht | |
| die [1][Visionalisierung der Musik] glücklicherweise anders aus. Das | |
| aktuelle Album des Mittdreißigers startete bereits als Varietéshow! | |
| Zusammen mit einer Handvoll Freunden, darunter Videoregisseure, | |
| Tänzer*innen und natürlich Musiker*innen, realisierte er eine | |
| verträumte, irre schöne Parallelwelt namens „Kabinett der Phantasie“. | |
| ## Kleiner Geldregen hilft | |
| Als Corona zuschlug, war es zwar erst mal Sense mit der | |
| Konzerttheaterproduktion – womöglich wäre man sonst auf große Tournee mit | |
| dem künstlerischen Konzept gegangen. Stattdessen nutzte man einen kleinen | |
| Geldregen (dazu später mehr) und dachte einfach größer: Mindestens ein Film | |
| sollte das „Kabinett“ nun werden – und natürlich auch ein Album. | |
| Es wurde beides. Der Film, der wie ein gewollt überlanges [2][Musikvideo] | |
| daherkommt, strotzt vor Gestaltungswillen. Die Referenzen sind zahlreich: | |
| Zwischen Vaudeville, den Jahrmärkten und Kuriositätenshows des frühen 20. | |
| Jahrhunderts und der frisch-freimütigen Anlehnung an mystische Motive aus | |
| dem Hinduismus und den surrealen Vorstellungswelten des mexikanischen | |
| Regisseurs Alejandro Jodorowsky, platzieren Purushotam und seine Crew | |
| lässig noch Achtziger-Chic à la Miami Vice und Neunzigerjahre-Ikonografie. | |
| Ja, selbst beim US-Kinder-TV-Sender Nickelodeon hat man sich etwas | |
| abgeguckt. Wahrsager treffen auf vieläugige Gestalten, Glaskugeln auf stark | |
| geschminkte Männer. Das ästhetische Programm, das sich weder auf der | |
| visuellen noch auf der musikalischen Ebene genau bestimmen lassen möchte – | |
| gesagt sei hier nur, dass die kurze Aufzählung zwangsläufig unvollständig | |
| bleibt –, erschöpft sich nicht alleine auf das Projekt Keshavara. | |
| ## One Hit Wonder | |
| Keshav Purushotam, der Kölner, führt eher nebenbei inzwischen auch eines | |
| der interessantesten unabhängigen Labels in Deutschland: Es heißt Papercup | |
| Records und ist bereits seit 2012 aktiv. Bevor Keshavara bei der | |
| Labelarbeit mitmischte, spielte er mit der Band Timid Tiger. | |
| Und Timid Tiger verdienten sich ihre Sporen im Jahr 2005 mit einem Hit, | |
| [3][„Miss Murray“,] der britisch geprägten Gitarrenpop mit einem süßen | |
| Tiger-Comic verband. Selbst das internationale Interesse und das | |
| ordentliche Airplay im bundesdeutschen Radio half Timid Tiger, dem Album | |
| „Timid Tiger & a Pile of Pipers“ und ihrem einstigen Hamburger Indie-Label | |
| L’Age D’Or, wo sie unterschrieben hatten, aber nicht mehr. Die Firma ging | |
| pleite, und Timid Tiger zog es daraufhin zum Majorlabel Columbia. | |
| Geburtshelfer des vertraglich zugesicherten zweiten Albums wurde damals der | |
| Musiker und Produzent Steffen Wilmking. Wilmking, den man in der hiesigen | |
| Musikszene eher als Steddy oder Steddybeats kennt, war zu dem Zeitpunkt | |
| schon eine Industriegröße: Noch als Teenager unterschrieben er und seine | |
| Crossover-Band Thumb ihren ersten Majorvertrag, später trommelte er bei den | |
| H-Blockx. | |
| ## Eigenes Label statt Banderfolg | |
| Doch als der Erfolg mit dem Timid-Tiger-Zweitling ausblieb, wurde es | |
| zunächst stiller. Wilmking wendete sich seiner Studiokarriere zu und | |
| produzierte etwa 2011 „XOXO“, den Durchbruch des Rock-Rappers Casper. | |
| Weitere Aufträge folgten; etwa für die Band Juli und den österreichischen | |
| Trapstriezi Yung Hurn. Zwischendurch fabrizierten Wilmking und Purushotam | |
| noch ein drittes Album mit Timid Tiger – aus Ermangelung eines | |
| Plattenvertrags gründeten die beiden ihr eigenes Label: Papercup Records. | |
| Auch hier wuchs erst mal Gras über die Sache – die nächste Veröffentlichung | |
| folgte erst 2016 und wurde das Soloalbumdebüt von Purushotam als | |
| „Keshavara“. Das Projekt war damals noch als One-Man-Show angelegt, das | |
| Label selbst hatte keine größeren Ziele. Nach und nach loteten die beiden | |
| Labelmacher ihre kreativen Möglichkeiten aus. | |
| Genug Potenzial gab es jedenfalls im Umfeld: Keshav Purushotam wurde A&R | |
| und verpflichtete vor allen Dingen Bands aus der florierenden Kölner Szene, | |
| Wilmking kümmerte sich um Distributionsdeals, macht die Promotion und | |
| erledigt – als Studioprofi – sogar das Mastering. | |
| ## Ideale Arbeitsteilung | |
| Die [4][Arbeitsteilung] scheint aufzugehen, immerhin hat man Zeit, Lust und | |
| Geld, um hoch produktiv zu sein. So veröffentlichte Papercup alleine 2021 | |
| neben dem Keshavara-Konzeptalbum samt Film noch zwei weitere Alben, drei | |
| EPs und neun Singles. Dennoch kann Papercup natürlich nicht mit den Big | |
| Playern mithalten, möchte dies aber auch gar nicht. Wert legen die beiden, | |
| genauso wie bei den eigenen künstlerischen Projekten, auf eine | |
| kontinuierliche Entwicklung der ästhetischen Möglichkeiten ihrer | |
| verschiedenen Bands und Musiker*innen. | |
| Der eigene Geschmack steht stets im Vordergrund – und familiär geht es auch | |
| zu: Das Ambientprojekt Plasma Hal wird von Benedikt Filleboeck geleitet, | |
| der nebenbei bei Keshavara Keyboard spielt; der alte Timid-Tiger-Bassist | |
| Christopher Martin (den manche auch als Mitglied von Jan Böhmermanns | |
| Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld kennen) funkt auch dazwischen – selbst der | |
| bekannte Jazz- und Global-Sound-Percussionist Ramesh Shotam wirkt mit; | |
| Purushotams Vater. | |
| Die musikalische Bandbreite ist dabei enorm: Von Modern Soul über | |
| verspulten Jazz bis zu Indierock und Synthiepop. Außerdem führt man gleich | |
| drei Sublabels: A Good Cup of Hope (Beatscience und Instrumental HipHop), | |
| Breezzze (Ambient) und außerdem Musikiste. Hinter Letzterem verbirgt sich | |
| ein Herzensprojekt von Steffen Wilmking, führt er damit doch die Arbeit | |
| seines Vaters Volker Wilmking weiter, der unter dem Namen einst ein kleines | |
| Folklabel und einen eigenen Musikverlag betrieb und Wurzeln in der | |
| Beatszene hatte. | |
| Der Erfolg gibt Papercup recht: Letztes Jahr räumte man beide Preise von | |
| pop.NRW, dem Musikbüro des bevölkerungsreichsten Bundeslands, ab. Newcomer | |
| des Jahres wurde die ausgezeichnete Papercup-Band ACUA, die eine Nähe zu | |
| den australischen Psychedelic-Progrockern Tame Impala nicht verhehlen kann. | |
| Act des Jahres wurde Purushotam als Keshavara himself. Das Preisgeld floss | |
| – na klar – direkt in den Film. Einen lauen Lenz und unkreative Kunst | |
| können andere machen; bei Papercup Records investieren Purushotam und | |
| Wilmking lieber zu viel als zu wenig, damit am Ende ihr ästhetisches | |
| Ergebnis stimmt. | |
| 11 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://kabinettderphantasie.de/ | |
| [2] /Neues-Video-von-Radiohead/!5814468 | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=4wvnUeB0FxY | |
| [4] /Musikduos-als-demokratische-Bastionen/!5816917 | |
| ## AUTOREN | |
| Lars Fleischmann | |
| ## TAGS | |
| Köln | |
| Indie | |
| Label | |
| Porträt | |
| Indie | |
| Indiepop | |
| Global Pop | |
| Musik | |
| Ethnologie | |
| Reggae | |
| Musik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Britische Indie-Plattenfirma él Records: Verabredung mit Venus | |
| Ein Buch und ein Sampler bringen die verwunschene Seltsamwelt des | |
| britischen Indie-Labels él Records zurück. Seine Popsongs wirken auch heute | |
| betörend. | |
| Neues Indie-Album von Fortuna Ehrenfeld: Musik zwischen Couch und Weltall | |
| Das Kölner Indierock-Trio Fortuna Ehrenfeld surft auf seinem neuen Album | |
| „Glitzerschwein“ knapp am Kitsch vorbei. Liebeskummer wird hymnisch | |
| besungen. | |
| Sängerin Moonchild Sanelly aus Südafrika: Let’s talk about sex | |
| Moonchild Sanelly ist Teil der hippen Musikszene Südafrikas. Ihr zweites | |
| Album „Phases“ versteht sie als feministisches, sexpositives Manifest. | |
| Porträt des Labels Mangel Records: Einfach und irre produktiv | |
| Mangel Records ist ein junges Label, gut vernetzt im musikalischen | |
| Underground von Berlin. Da passiert viel Spannendes in der Musik. | |
| Musikethnologisches Projekt FLEE: Die nach den Tönen forschen | |
| Das Projekt FLEE mit Sitz in Paris verfolgt beim Urbarmachen von alten | |
| Klangarchiven und Feldaufnahmen aus aller Welt neue Ansätze. Ein | |
| Porträt. | |
| Nachruf auf Lee „Scratch“ Perry: Kosmische Echospulen | |
| Lee „Scratch“ Perry ist gestorben. Der jamaikanische Produzent und | |
| Experimentator am Mischpult begründete im Studio den Dubreggae. Er wurde | |
| 85. | |
| Live-Album von Krautrock-Band Can: Nummern ohne Ende | |
| Aus alten Bootlegs hat Can-Keyboarder Irmin Schmidt ein orgiastisches | |
| Livealbum kondensiert. Zu hören ist ein Konzert aus Stuttgart, Mitte der | |
| 1970er. |