# taz.de -- Nachruf auf Lee „Scratch“ Perry: Kosmische Echospulen | |
> Lee „Scratch“ Perry ist gestorben. Der jamaikanische Produzent und | |
> Experimentator am Mischpult begründete im Studio den Dubreggae. Er wurde | |
> 85. | |
Bild: Im Rausch, in der Musik und im Look: Perry blieb immer eine un(be)greifba… | |
Als Kind aus ärmlichsten Verhältnissen – Vater Straßenarbeiter, Mutter | |
Erntehelferin für Zuckerrohr, die Behausung eine Wellblechhütte – wusste | |
Rainford Hugh Perry schon früh, dass man sich Geradlinigkeit leisten können | |
muss. Als er 1936 in dem Ort Manchester auf Jamaika geboren wurde, war die | |
Insel noch lange nicht das karibische Urlaubsparadies heutiger Tage. Doch | |
Perry kam gerade pünktlich zur Welt, um selbst in das Schicksal seines | |
Landes einzugreifen, das damals noch britische Kolonie war. Wenngleich er | |
nicht das werden sollte, was man einen „Nationalhelden“ nennt. Bis zuletzt | |
galt der berühmte jamaikanische Dubreggaeproduzent als Nonkonformist – | |
nicht immer freiwillig. | |
Als Teenager verdiente er sich sein Auskommen mit Glücksspiel, nahm | |
Aushilfsjobs an und tanzte auch mal halbprofessionell für Essen und ein | |
Dach über dem Kopf. Einflüsse prasselten auf ihn ein: Die damals gerade | |
entstehende Rastafari-Bewegung, die von den Behörden verfolgt wurde, | |
obgleich sie immer mehr Anhänger gewann; die Lehren des Publizisten und | |
Politikers Marcus Garvey, der von der „friedlichen Kolonialisierung“ | |
Afrikas gepredigt hatte und als Vordenker des Panafrikanismus galt; dazu | |
Ska, die stark vom US-R&B geprägte Tanzmusik als frühe Ausformung dessen, | |
was heute zumeist unter Reggae subsumiert wird. | |
Dem Rastafarianismus trat er zeitlebens indifferent entgegen. Abbilder | |
Garveys trug er hingegen stets wie Ikonen bei sich – und an der | |
Weiterentwicklung von Ska zum härteren Rocksteady, (Roots) Reggae und | |
schließlich am Dub war er unmittelbar beteiligt. Anfang der 1960er ging | |
Perry nach Kingston, heuerte beim Produzenten Coxsone Dodd an, war zunächst | |
„Go fer“, Bote, der Platten für die [1][Soundsystems], die mobilen | |
Diskotheken, transportierte, die in den Ghettos für Unterhaltung sorgten. | |
„Upsetter“ wurde er damals schon genannt, weil er die Soundsystems | |
gegeneinander ausspielte. | |
Und er war auch dabei, als das berühmte Studio One aus der Taufe gehoben | |
wurde: das Aufnahmestudio, das auch zu einer Plattenfirma wurde. Das | |
jamaikanische Musikbusiness sah damals so aus: Ein Komponist ging zu einem | |
Studio mit einem Lied, heuerte dafür einen Sänger an, dessen Songfassung | |
wurde nun von einem Toningenieur aufgenommen und dann direkt auf Platte | |
gepresst und verkauft. Perry nahm auch eine Platte auf, den [2][„Chicken | |
Scratch“]. Rainford Hugh war fortan und endlich nur noch als Lee „Scratch“ | |
Perry bekannt. | |
## Sein „Versioning“ war mehr als nur Handwerk | |
Erst scoutete er nach Gesangstalenten in den Clubs und Dancehalls, dann | |
stand er immer häufiger selbst am Mischpult, wurde Toningenieur, | |
produzierte täglich Künstler und Bands. Bald auch The Wailers und [3][Bob | |
Marley] – und jeden oder jede, die etwas auf sich hielt oder etwas werden | |
wollte. Und wenn mal gerade niemand da war, baute er seine eigene | |
Backingband, The Upsetters, auf. Jetzt fummelte er nicht nur während der | |
Aufnahmen an den Reglern und Tonspuren herum, sondern manipulierte sie auch | |
danach. Dub war die bewusste Manipulation des Originals. Zu jedem Song | |
bastelte Perry eine sogenannte „Version“, eine abweichende | |
Instrumentalfassung, zu der wiederum SängerInnen Gesangsspuren aufnehmen | |
konnten. | |
Bei Perry war das „Versioning“ mehr als nur Handwerk, er spielte das | |
Mischpult wie ein Instrument. Immer neue Schichten an Effekten trug er auf, | |
bediente Filter und ließ vor allen Dingen das Echo-Gerät Kapriolen | |
schlagen. Melodien hallten dadurch über Sekunden nach … Aufnehmen, Mixen, | |
die technischen Apparaturen bedienen und Klang formen sowie gestalten – | |
durch Lee „Scratch“ Perry wurde dies zu einem [4][eigenen künstlerischen | |
Akt]. Ohne Perry wären die ProduzentInnen (elektronischer) Musik von heute | |
nicht auf dem kosmischen Level, zu dem er schon Ende der 1960er Jahre | |
gelangte. | |
## Geister und Stimmen aus dem Kopf vertreiben | |
Da Zeit Geld ist und auch Tonbänder teuer waren, musste Perry schon vorab | |
wissen, was passiert, wenn er an Knöpfchen A dreht und mit Schieber B | |
herumfuchtelt. Das alles geschah in seinem Kopf – natürlich mitausgelöst | |
durch die Knospen des Cannabis Sativa. Einem Genuss, dem er sich mal | |
spirituell, dann wieder sehr säkular widmete. Sein eigenes Studio, „Black | |
Ark“, ging 1979 in Flammen auf, vermutlich durch Brandstiftung. | |
Man munkelt, er wollte damals Geister und Stimmen aus seinem Kopf | |
vertreiben. Auch sein Aussehen wurde exzentrischer: Mal trug er CDs am | |
ganzen Körper, glitzernde Foolheads, dann den Kopfschmuck der | |
US-amerikanischen Ureinwohner, Bart und Haare waren mal grün, gelb oder | |
rosa gefärbt. Im Rausch, in der Musik, in der Philosophie und im Look: | |
Perry blieb immer eine un(be)greifbare Chimäre. | |
Er verließ Jamaika, landete erst in London, dann mit seiner zweiten Frau | |
Mireille Campbell in der Schweiz, an der Goldküste des Zürichsees. So | |
alienhaft und paradiesvogelartig er in den letzten Jahrzehnten wirkte, so | |
produktiv war er bis zuletzt. Konzerte und Alben gab es in schöner | |
Regelmäßigkeit. Da vergaß man fast, dass Lee, genannt Scratch, Perry längst | |
ein greises Alter hatte. Mit 85 starb er am Sonntag auf Jamaika. Sein | |
schillerndes Leben und sein ausuferndes Werk werden dennoch ewig nachhallen | |
– dafür hat der Meister des Dub längst gesorgt. | |
30 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
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