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# taz.de -- Renaissance von Dubreggae: Die Musik in der Hauptrolle
> Steve McQueen zeigt es in der Filmreihe „Small Axe“, Fabienne Miranda und
> Junior Loves in ihrer Musik: Dubreggae klingt besser denn je.
Bild: Der Londoner Regisseur Steve McQueen beim Filmfestival Rom, Oktober 2020
Dem realistischen Kino falle es oft schwer, zu zeigen, was zum Leben
dazugehört, hat der französische Komponist und Filmtheoretiker Michel Chion
einmal beklagt: Seiner Meinung nach fehle es darin an glaubhaften
Darstellungen vom Überschwang der Liebe, von Lebensfreude, die die Menschen
zumindest zeitweilig erfüllt, und der Bedeutung von Gemeinschaft im Alltag.
Im (Film-) Musical des 20. Jahrhunderts sah Chion eine geeignete Form,
diesen Impulsen künstlerisch Ausdruck zu verleihen: Und er nannte die
Zugehörigkeit zu einem Kollektiv durch eine synchron getanzte Choreografie,
innere Monologe, die sich durch Gesang in einem Song mitteilen, und andere
Gestaltungselemente des Genres als Marker.
„Dem Leben und der Wirklichkeit vollständig entsprechen“, nichts weniger
sah Chion im Musical verwirklicht. Und er stellte sich dabei abstrakt einen
Rhythmus vor, dem jede/r in einer (Tänzer:innen-) Gruppe entspricht und das
Echo der Anderen, das jeweils in einem selbst mitschwingt. Bis dass der Ton
sogar das Bild führt, in einer „zweiten Welt aus Tanz und Gesang“.
Weitab von den Fantasie-Konventionen des Musicals hat diese imaginäre
zweite Welt nun der Filmemacher (und bildende Künstler) Steve McQueen in
einem Film seiner fünfteiligen, für den britischen Sender BBC realisierten
TV-Reihe „Small Axe“ zu einer hypermodernen und realistischen Form
weiterentwickelt.
## Prekärer Alltag
Alle Filmteile handeln vom prekären Alltag und der rassistischen
Benachteiligung der karibischen Community im London der 1970er und 1980er
Jahre und beruhen auf wahren Begebenheiten. Mit der zweiten Folge, „Lovers
Rock“ betitelt, liefert der 51-jährige Afrobrite, dessen Eltern aus der
Karibik stammen, fiktionale Bilder, die die intensiven Wirkungen von Musik
enorm dynamisch bezeugen; es ist ein Film über Musik, wie es ihn so noch
gar nicht gab. Und eine Vergegenwärtigung der kulturellen Kraft von
[1][Dubreggae].
Die Handlung bildet dabei – denkbar simpel in der Anordnung – die
Geschehnisse einer Soundsystem-Nacht im London der frühen 1980er Jahre ab:
Von der Catering-Vorbereitung über den Aufbau der Verstärkeranlage und dem
Kalibrieren des Sounds durch die DJs bis zum Finale, das wie im Rausch das
dedicated Dancing der Gäste abbildet, so direkt, wie diese auf die
Musikauswahl der DJs reagieren, folgt der Plot den Emotionen, die die Musik
auslöst.
Dubreggae ist hierbei nicht nur der dramaturgisch korrekt eingesetzte
Ruling Sound, zu dem getanzt, gesungen, geliebt und gechillt wird. Statt
nur der Soundtrack zu sein, übernimmt die Musik selbst eine Hauptrolle, hat
sogar Einfluss auf Kameraführung und Schnittfolge, die dem katatonischen
Rumpeln und repetitiven Wahnsinn des Dub und seiner Manipulationen durch
die DJs am Mischpult nachempfunden sind. McQueen inszeniert in „Lovers
Rock“ eine Röntgenaufnahme dieser musikalischen Wechselwirkungen.
## Afrobritische Eigenschöpfung
Die Schauspieler:innen tanzen zu Originalsongs, wie „Kunta Kinte“ von den
Revolutionaries, einem hymnischen Dubreggae-Instrumental vom
Channel-One-Label, und „Silly Games“ von Janet Kay, das als erstes
Lovers-Rock-Stück überhaupt gilt. Lovers Rock ist eine Eigenschöpfung
karibischer Migrant:innen in Großbritannien. So werden in England
produzierte, super eingängige und besonders melodiöse Reggaeballaden mit
Disco-Schlagseite genannt, die besonders zu den Befindlichkeiten der
Secondos gesprochen haben, jener ab Mitte der Siebziger Jahre groß
gewordene, in England geborene und aufgewachsene afrobritische Generation.
Viele Lovers-Rock-Interpreten sind weiblich. „Silly Games“ wird denn auch
von den weiblichen Gästen des Soundsystems und den Köchinnen mitgesungen.
In McQueens virtuoser Darstellung von Musik in der karibischen Community im
London der frühen 1980er Jahre lässt sich Reggaekultur von einer neuen,
bisher wenig beleuchteten Seite begutachten: Dubreggae als Schrittmacher
der karibischen Diaspora in Großbritannien. Der [2][US-Musikethnologe
Michael E. Veal] zeigt in seinem Buch „Dub. Soundscapes and Shattered Songs
in Jamaican Reggae“, wie jamaikanische Musik als Alternativmedium Bildung
vermittelt, aus Mangel an Geschichtsnachschlagewerken, aber auch angesichts
der großen Bedeutung von Musik im Alltag als gemeinschaftsstiftendes
Instrument: Sound als akustische Geschichtsschreibung.
Alle kennen die Songs und wissen, was in den Texten und Hooklines
mitschwingt. „Dub ist in erster Linie für den Dancefloor produziert, aber
er vermittelt auch andere Ideen und Erfahrungswerte. Er erdet abstrakte und
experimentelle Impulse in der sinnlichen Körpererfahrung beim Hören, wenn
die Eingeweide vom Bass durchpulst werden“, schreibt Veal. Regisseur Steve
McQueen zeigt auf dem Dancefloor in „Lovers Rock“ immer wieder in
Kameratotalen auf die Hände der Tänzer:innen, mal lose um Schultern der
Partner:innen geschlungen, mal angewinkelt oder in der Luft kreisend. Die
Anatomie der Körper passt gut zur Reduziertheit der Musik, ihrem
„skelettierten spukhaften Charakter“, der Veal an die flüchtigen Graffiti
vorbeirauschender besprühter U-Bahnen in New York erinnert und die
Sensation, die diese bei ihm ausgelöst haben.
## Soundsystemkultur fürs Massenpublikum
In Großbritannien war Steve McQueens Reihe „Small Axe“ im
öffentlich-rechtlichen Programm BBC One zu sehen, erhielt exzellente
Kritiken und erreichte ein Massenpublikum. Hierzulande muss man die Filme
bislang bei privaten Streamingdiensten einkaufen, gleichwohl verdient
dieses Werk einen Platz im Mainstream, am besten zur Prime Time.
Bleibt zu hoffen, dass auch Dubreggae-Künstler:innen von der Aufmerksamkeit
für McQueens Filmreihe profitieren können. Durch Stars wie Bob Marley wurde
seine Klangphilosophie zwar schon in den 1970ern in populäre Kanäle
gespült, die großen Erfolge sind ihm aber nicht beschieden. Außerhalb der
Community ist sein Einfluss heute am ehesten im modernen Dancefloor
bemerkbar, wo House und Techno maßgebliche Produktionsweisen des Dubreggae
übernommen haben. Bei den Protagonist:innen von Dubreggae gibt es unzählige
interessante Lebenswege, die eine genauere Betrachtung verdient hätten.
Nachzuverfolgen an der Karriere der US-panamaischen-Künstlerin Fabienne
Miranda (1952–2013). Aufgewachsen in New York und Kalifornien, zog es
Miranda Mitte der siebziger Jahre in die Karibik, nachdem sie vom Spielfilm
„The Harder They Come“ nachhaltig fasziniert war. In Jamaika wirkte sie
zunächst als Backgroundsängerin auf Alben von Burning Spear mit, bis sie an
der Seite der Produzenten Jack Ruby und Lee „Scratch“ Perry arbeitete, in
der Männerwelt des Reggaebusiness Eigenkompositionen durchsetzte und später
auch Gedichtbände veröffentlichte.
## Seele und Echo
Mirandas Songs wie „Prophecy“ und „Destiny“, die sie für die frankopho…
Reggae-Gemeinde in Montreal als französische Fassung einsang, verbinden die
Beseeltheit des Rootsreggae mit der Echokammer des Dub. Die Sängerin
tauchte ab den 1990ern immer wieder auf Tracks des britischen
Dubproduzenten Mad Professor auf, der ihre Gesangsspuren in die digitale
Sphäre überführte und zukunftsfähig machte. In den Nullerjahren kehrte
Fabienne Miranda zurück in ihre Heimatstadt New York und war in einem
Kulturzentrum für karibische Einwanderer in Brooklyn aktiv, sie starb 2013.
Auf den Machismo des Reggae reagierte Miranda gelassen. In einem Interview
sagte sie lapidar: „Ich wurde akzeptiert, als ich mit den Rastas barfuß
Fußball gespielt habe.“ Nun ist „La Destinée“, Fabienne Mirandas
französisch gesungener Signatursong von 1977, endlich wieder
veröffentlicht. Frühes Zeugnis von weiblichem Reggae-Empowerment. Höchste
Zeit für eine Wiederentdeckung.
Der junge Londoner Künstler und DJ Junior Loves ist das Ebenbild des
zeitgenössischen Dubproduzenten, der einfachste digitale Tools einsetzt, um
seismisch bebende Instrumentals zu inszenieren, sogenannte „Steppers
Tracks“, ratternde und stählern perkussionierte Uptempo-Nummern, die auch
jenseits der Reggaeszene goutiert werden.
Flöten und Saxofone verbreiten als Midisounds Gruselstimmung und Junior
Loves’ Basssound brummelt wie die Sonde bei einer Darmspiegelung. Auf
seiner aktuellen 10-Zoll-Platte [3][„Yantlet/Grain“], die er beim Label des
britischen Technoproduzenten John T. Gast veröffentlicht hat, lässt Junior
Loves Dub auferstehen wie eine Stonehenge-Animation in einem Ballerspiel.
Als eine Hälfte des DJ-Teams Kestrel Explorations mischt er beim Londoner
Internet-Radio NTS seit 2013 allmonatlich durch die Klangwelten zwischen
Dub, Techno und Ambientsounds und bringt die [4][Soundsystem-Kultur] auf
den neuesten Stand. Rewind, Selector, heißt es dann, wenn die Tänzer:innen
einen Track erneut hören möchten. Auch in „Lovers Rock“ wird rewindet:
„Kunta Kinte“ von den Revolutionaries erklingt ein zweites Mal, zum Jubel
aller Anwesenden.
8 Jan 2021
## LINKS
[1] /Julian-Henriques-ueber-Jamaika/!5585496
[2] /Ethnologe-zur-Bewahrung-von-Musik/!5579557
[3] https://5gatetemple.bandcamp.com/album/yantlet-grain
[4] /Interviews-zur-Soundsystemkultur/!5676186
## AUTOREN
Julian Weber
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