# taz.de -- Londoner Dubpoet Linton Kwesi Johnson: „Wir Schwarzen haben Engla… | |
> Der Dubpoet Linton Kwesi Johnson über verlogenes Gedenken am Windrush | |
> Day, mündliche Überlieferung von Geschichte und den Kampf gegen | |
> Sklaverei. | |
Bild: Einfach cool: Linton Kwesi Johnson bei einem Konzert im Amsterdamer „Pa… | |
taz: Linton Kwesi Johnson, in Großbritannien wird dieser Tage der | |
„Windrush Day“ begangen, zum Andenken an die jamaikanische Migration ab | |
1948. Was verbinden Sie damit? | |
Linton Kwesi Johnson: Der Windrush Day kann mir gestohlen bleiben! Als er | |
2018 ins Leben gerufen wurde, geschah dies, um die schwarze Bevölkerung zu | |
beschwichtigen. Sie war wegen der miesen Behandlung durch die Tories | |
aufgebracht. Durch Ämterschlamperei wurden aus der Karibik stammende | |
britische Staatsbürger:Innen entrechtet. Sie waren legal ins Land | |
gekommen. Ich empfinde den Windrush Day als zynische Vertuschung eines | |
Skandals. | |
taz: Was kam damals zum Vorschein? | |
LKJ: Es wurde klar, dass die Dokumente von Tausenden Briten aus der Karibik | |
vernichtet wurden, und so stempelte sie die Tory-Regierung zu Illegalen ab. | |
Manchen wurde der Pass entzogen, anderen die Arbeitserlaubnis verweigert, | |
oder ihre Krankenversicherung. Es gab Fälle, in denen Menschen, deren | |
Eltern nach England eingewandert waren, ins Herkunftsland der Eltern | |
abgeschoben wurden, ohne dass sie jemals dort gelebt hätten! Dieses | |
offiziöse Windrush-Getue geht mir auf den Zeiger! Anstatt Behördenversagen | |
aufzuarbeiten, zieht man eine Gedenkfassade hoch, um es unkenntlich zu | |
machen. Außerdem ist der Windrush Day ahistorisch. Die ersten Schwarzen | |
kamen bereits mit den Römern. [1][Die große Migration setzte zwar nach 1945 | |
ein], schon vorher aber lebte hier eine Diaspora. Schwarze Geschichte | |
beginnt nicht erst mit Windrush. | |
taz: Kennen Sie die britische TV-Serie „Small Axe“, bei der der Künstler | |
Steve McQueen Regie geführt hat? In der Folge „Mangrove“ geht es um die | |
Londoner Black Panthers, denen Sie angehört haben und ihre Verfolgung durch | |
Scotland Yard. Hat McQueen Ihre Geschichte adäquat inszeniert? | |
LKJ: Er ist ein Genie. [2][Mit seiner Serie „Small Axe“ hat er der | |
Öffentlichkeit einen großen Gefallen getan]. Denn er rückt darin die | |
historischen Erfahrungen von Briten in den Fokus, deren Eltern nach England | |
gekommen waren. [3][Die Filme sind gut recherchiert.] Mein erster Gedanke: | |
Jetzt bekommt die Gesamtgesellschaft endlich einen Eindruck davon, welche | |
Erfahrungen wir in Großbritannien machen mussten. | |
taz: In der Folge „Lovers Rock“ geht es speziell um Soundsystemkultur in | |
England. Dubreggae als DJ-Musik spielt die Hauptrolle. Jener Stil, durch | |
den Sie Ende der 1970er international bekannt wurden, obwohl Sie bereits | |
als Dubpoet gearbeitet hatten. Ihre Karriere ist ungewöhnlich, weil Sie als | |
Bibliothekar angefangen haben … | |
LKJ: Ich habe tatsächlich kurz als Bibliothekar in London gearbeitet, alles | |
geschah gleichzeitig. In meinen 20ern war ich politisch aktiv bei den | |
Panthern und schrieb für das Magazin Race Today. Ich begann damals, | |
Gedichte zu verfassen, weil ich um einen künstlerischen Ausdruck gerungen | |
habe. Ich war auf der Suche danach, wie sich Erfahrungen der Jugend mit | |
eigenen Worten artikulieren lassen. Inspirationen dafür kamen aus der Lyrik | |
und der Musik. Besonders Reggae-DJs in Jamaika hatten es mir angetan: Big | |
Youth und U-Roy. So kam eins zum anderen. Als es mit meiner Musik losging, | |
war das Zufall. Nein, kein Zufall. | |
taz: Eher Glück? | |
LKJ: Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Als ich meinen zweiten | |
Gedichtband, „Dread Beat an’ Blood“, veröffentlicht hatte, schrieb ich a… | |
für Virgin Records Linernotes. Dann flüsterte ich dem A & R John Varnom, | |
dass ich ein eigenes Album aufnehmen könnte. Viele Leute sagten damals, | |
meine Lyrik klinge musikalisch. 1978 wurde „Dread Beat an’ Blood“, mein | |
Debütalbum, dann veröffentlicht. | |
taz: Weil Sie U-Roy erwähnt haben: Als ich seine Version von „The Tide is | |
High“ gehört habe, war ich verblüfft. Sein Toasting ist rhythmisch, es | |
arbeitet virtuos mit Punktuation und Pausen. Was gefällt Ihnen daran? | |
LKJ: Er gab mir konkrete Ideen, wie mündliche Überlieferung funktioniert | |
und wie sie sich zur Literatur verhält. Das gesprochene Wort im Gegensatz | |
zum geschriebenen Wort. Es hat mich geradewegs zur afrikanischen oralen | |
Tradition gebracht, wie dort Geschichten mündlich überliefert werden. | |
Dadurch wird Geschichte dokumentiert und von einer Generation an die | |
nächste weitergereicht. Als ich begonnen habe, Strophen niederzuschreiben, | |
habe ich dafür gesprochenes Jamaikanisch benutzt. Da es keine Grammatik | |
gab, auf die ich mich hätte beziehen können, habe ich die Worte so | |
aufgeschrieben, wie sie phonetisch klingen. Hat sich als passendes Vehikel | |
für meine Generation entpuppt, so konnten wir die unterschiedlichsten | |
Themen am besten ansprechen. Inzwischen ist Spoken Word führend im Pop, man | |
denke an HipHop und Grime. | |
taz: 1984 habe ich Sie in München live gesehen. Ihr kontrollierter Zorn ist | |
mir in Erinnerung. Vorher war ich mit Punk in Berührung gekommen, da war | |
Wut mit körperlicher Konfrontation verbunden. Bei Ihnen kam sie cooler | |
daher. Sie trugen Anzug und Hut … | |
LKJ: So bin ich halt. Musikalisch hat mich Punk nur mäßig begeistert, aber | |
mit dem Spirit seiner Rebellion habe ich mich identifiziert. Außerdem waren | |
Punks meine ersten Fans. Noch bevor ich mit der Dennis Bovell Dubband als | |
Backing gespielt habe, bestritt ich mit [4][Siouxsie and the Banshees], PIL | |
und der Popgroup Konzerte. In ihren Songs thematisierten Reggae und Punk | |
beide Orientierungslosigkeit, die durch die Rezession entstanden war. Die | |
späten 1970er waren düster. Mit Beginn des Thatcherismus wurde dann der | |
schmale Staat propagiert, das Kapital wurde wieder mächtig, die Labourparty | |
geschwächt. Thatcher zerschlug die Gewerkschaftsbewegung, auch wenn sich | |
diese mit dem Miners’ Strike noch mal aufbäumte. | |
taz: Großen Einfluss übte das Werk des karibischen Historikers C. L. R. | |
James auf Sie aus. Er war Kommunist, aber kein Stalinist. Weshalb war er | |
wichtig? | |
LKJ: Sein zentrales Werk [5][„Die Schwarzen Jakobiner“ war ein Meilenstein] | |
insofern, als Schwarzen dadurch Fakten erstmals zugänglich gemacht wurden. | |
Sein Buch handelte vom erfolgreichen Sklavenaufstand in der Karibik, bei | |
dem 1804 Napoleon besiegt wurde, und dazu die britischen und spanischen | |
Armeen. Ehemalige Sklaven errichteten auf Haiti eine unabhängige Republik. | |
Wir lernten von James, woher wir gekommen waren, was wir getan hatten, um | |
unser Los zu verbessern. Vorher wurden wir von der Geschichtsschreibung nur | |
als Opfer dargestellt, als hätten wir nie gegen Sklaverei rebelliert. Es | |
gab den Mythos, allein die Güte der Weißen und ihr liberales Gewissen habe | |
Sklaverei abgeschafft. Dem entgegen belegte C. L. R. James, dass wir unsere | |
Freiheit erkämpft hatten. | |
taz: Und sein Antistalinismus? | |
LKJ: Die Auseinandersetzung damit findet sich etwa in „Notes on the | |
Dialectics“, wo er hegelianisch gegen orthodoxe Auslegungen von Marxismus | |
argumentiert. | |
taz: Dieses Werk ist leider nicht ins Deutsche übersetzt. | |
LKJ: Zuvor stand James eine Zeitlang an der Seite von Trotzki. Er brach | |
dann mit dem Trotzkismus, weil der nur die Kategorie Klasse gelten und die | |
Kategorie „Race“ außer acht ließ. Dadurch kam James mit dem karibischen | |
Kommunisten George Padmore zusammen, der zunächst in der Komintern tätig | |
war und dann panafrikanischen Marxismus entwickelte. Beide wandten sich | |
aktiv gegen Mussolini, nachdem der italienische Diktator 1935 mit seinen | |
Truppen in Äthiopien einmarschiert war. Es gibt viele Facetten im Werk von | |
C. L. R. James. | |
taz: Als ich 2022 in London war, entdeckte ich im Stadtteil Hackney, dass | |
eine Bibliothek nach ihm benannt ist. Hat sich doch einiges geändert in | |
England, oder? | |
LKJ: Wir Schwarzen haben England nachhaltig verändert. Wir haben das Land | |
lebenswerter gemacht, als es war, damals, wie wir es vorgefunden hatten. | |
Auf dem Weg zur Integration gab es enorme Hindernisse zu überwinden, | |
struktureller Art, aber auch, was bigotte Vorurteile im Alltag anbelangt. | |
Dagegen mussten wir auf die Straße und sogar Aufstände anzetteln. Das | |
Ankommen in der Mehrheitsgesellschaft war kein Kinderspiel. Heute sind wir | |
nicht mehr so marginalisiert. Unsere Leute sitzen in Parlamenten und | |
Stadtverwaltungen, in Institutionen, sind sichtbar in allen | |
gesellschaftlichen Sphären, ob Sport oder Kultur. Das wurde uns nicht auf | |
dem Silbertablett gereicht, wir mussten dafür viele Widerstände überwinden. | |
Was für eine Leistung! | |
taz: Sehen Sie sich als Londoner? Jamaikanischer Brite? Weltbürger? | |
LKJ: Als Londoner mit tiefen Wurzeln in Jamaika. Ach, eigentlich gehöre ich | |
zur Familie der Menschheit. | |
taz: Anders als im jamaikanischen Dancehallsound verzichten Sie in Ihren | |
Texten darauf, Frauen zu diskriminieren. Im Gegenteil, Sie haben immer | |
bekundet, wie wichtig Künstlerinnen für Sie selbst waren. Ihre | |
Textanthologie „Time Come“ wurde von Ihrer Frau Sharmilla Beezmohun | |
zusammengestellt, wie kam es dazu? | |
LKJ: Meine Frau hat sich meine losen Texte aus den letzten 50 Jahren | |
angesehen und fand, die müssten in Buchform. Meine erste Reaktion war, | |
bitte erst, wenn ich tot bin. Das fand Sharmilla dämlich, lektorierte und | |
publizierte „Time Come“. Es stimmt, Frauen spielen in meinem Leben eine | |
große Rolle. Von meiner Oma habe ich jamaikanische Folkkultur mitbekommen. | |
Gerechtigkeitssinn habe ich meiner Mutter zu verdanken, auch wenn ich kein | |
Moralist bin. Später in London, als ich schon Graswurzelpolitik betrieben | |
habe, waren Aktivistinnen zentral für meine Entwicklung. Zum Beispiel die | |
Anführerin der Black Panthers, Altheia Lecointe-Jones. Bei Lyrik nenne ich | |
an erster Stelle das Werk von Gwendolyn Brooks. Dass Frauen in der | |
Gesellschaft immer noch benachteiligt sind, ob sozial, politisch oder | |
kulturell, ist eine betrübliche Tatsache. | |
26 Jun 2025 | |
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