# taz.de -- Die Geburt des modernen Großbritannien: Musik als Dampfer der Gesc… | |
> Ohne karibische Einwanderung nach Großbritannien sähe die | |
> Popmusikgeschichte anders aus. Am 22. Juni begeht das Land den | |
> „Windrush“-Day. | |
Bild: Karibische Einwanderer werden am 22. Juni 1948 an Bord der „Empire Wi… | |
Am 4. Dezember 1930 lief das im Auftrag der Reederei Hamburg Süd gebaute | |
Kreuzfahrtschiff „MV Monte Rosa“ bei der Hamburger Werft Blohm & Voss vom | |
Stapel. Ab 1931 fuhr es Touristen durch das Mittelmeer, zu den britischen | |
Inseln und nach Norwegen, von 1933 an im Rahmen des NS-Programms „Kraft | |
durch Freude“. Mit Kriegsbeginn 1939 wurde die „Monte Rosa“ der deutschen | |
Kriegsmarine zugeordnet und fungierte als Truppentransporter und | |
Versorgungsschiff. 1945 wurde sie von den Briten in Kiel als Kriegsbeute | |
requiriert, nach einem Themsenebenfluss in „HMT Empire Windrush“ umbenannt | |
und fuhr ab 1947 für die britische Regierung auf der Asienroute. | |
Am 22. Juni begeht Großbritannien den „Windrush Day“. Wieso hatte dieses | |
Schiff so eine Wichtigkeit, dass es im Vereinigten Königreich mittlerweile | |
jährlich mit einem eigenen Feiertag geehrt wird? Wieso ist es so | |
entscheidend für den Postkolonialismus und das moderne Europa, wieso gäbe | |
es ohne dieses Schiff womöglich weder die Rolling Stones, noch Reggae, noch | |
etliche weitere kulturelle Techniken und Ideen, die sich als weltweit | |
wegweisend bis weit ins 21. Jahrhundert entpuppen sollten? | |
## Ein One-Way-Ticket kostete 28 Pfund | |
Im Frühjahr 1948 beschloss das Unterhaus den British Nationality Act 1948, | |
der für Bewohner Großbritanniens wie seine Kolonien eine gemeinsame | |
Staatsbürgerschaft schuf. Die Nachricht verbreitete sich auch nach Jamaika. | |
Zur selben Zeit wurde die „HMT Windrush“ beordert, auf ihrer Rückreise nach | |
Großbritannien in Jamaika einige versprengte Soldaten mit an Bord zu | |
nehmen. Die Reederei hielt dies auch für eine gute Gelegenheit, zusätzlich | |
Passagen im unterbesetzten Schiff zu verkaufen, und inserierte in den | |
Lokalzeitungen von Jamaikas Hauptstadt Kingston: „Passenger Opportunity to | |
United Kingdom“ – mit einem One-Way-Ticketpreis von 28 Pfund auch für | |
abenteuerlustige Jamaikaner noch erschwinglich. | |
Als das Schiff am 24. Mai Kingston verließ, befanden sich über 800 | |
Passagiere an Bord, die bei der Landung in Tilbury an der Themse am 21. | |
Juni 1948 einen Ort in der Karibik als letzten Wohnort angaben. Einen Tag | |
später durften sie von Bord gehen. Ihre Ankunft markiert die Geburt des | |
modernen, multikulturellen Großbritanniens. | |
## 1956 erreichte die Einwanderung ihren Höhepunkt | |
Nach einer Schätzung der britischen Regierung fehlten dem Land 1946 gut 1,3 | |
Millionen Arbeitskräfte. Der naheliegende Schritt, arbeitsuchende Bürger | |
aus den Kolonien ins „Motherland“ einzuladen, fiel den Verantwortlichen | |
jedoch schwer. Anfang 1947 erging sogar eine offizielle Order an die | |
Kolonialverwaltungen, nichts über den Arbeitskräftemangel zu verlautbaren. | |
Parallel wurde eine Untersuchung veröffentlicht, in der es hieß, dass | |
Bewohner der Karibik den Strapazen eines Jobs im Vereinigten Königreich | |
nicht gewachsen seien. | |
Die Wirklichkeit sah anders aus: Die 800 karibischen Passagiere der „HMT | |
Windrush“ standen nach wenigen Wochen nahezu komplett in Lohn und Brot. Und | |
während die regierende Labour Party noch über Gesetzesänderungen | |
debattierte, die den rassistischen Vorurteilen vieler Briten gegenüber | |
ihren dunkelhäutigen Commonwealth-Brüdern und -Schwestern Rechnung trugen, | |
schufen Großunternehmen wie London Transport, British Rail und der National | |
Health Service Fakten und rekrutierten auf Barbados und Jamaika aktiv | |
Arbeitskräfte. Im Jahr 1956 erreichte die Einwanderung aus der Karibik mit | |
46.000 Neuankömmlingen ihren Höhepunkt, alldieweil sich die rassistischen | |
Spannungen verschärften. | |
## Londoner Clubszene wird zum kreativen Hotspot | |
Es gab jedoch einen Bereich, in dem die Gäste aus der Karibik ausgesprochen | |
willkommen waren: der aufblühenden Jazz- und Tanzmusikszene in den | |
britischen Großstädten. An Bord der „Windrush“ befanden sich diverse | |
populäre Calypsosänger*innen aus Trinidad, außerdem etliche versierte | |
Instrumentalist*innen, die vorher zumeist in den Touristenhotels der | |
Karibik getingelt hatten und aus dem Job eine große Vielseitigkeit und | |
intime Kenntnis diverser karibischer Stilistiken mitbrachten. Die | |
geografische Nähe der Karibik zu den USA, vor allem zu dem musikalischen | |
Hotspot New Orleans und seinen Radiosendern, sorgte zudem dafür, dass die | |
karibischen Musiker*innen stets auf dem neuesten Stand der | |
US-Jazz-Entwicklung waren. | |
Beides, sowohl die Jazzkenntnisse als auch [1][die Vielfalt der karibischen | |
Musik] erweckten bei britischen Jazzer*innen wie Humphrey Lyttleton, | |
Victor Feldman und Ronnie Scott Neugierde und Begeisterung und es kam mit | |
karibischen Virtuos*innen wie Joe Harriott, Dizzy Reece und Shake Keane | |
zu nächtelangen Jamsessions zwischen Calypso, Dixieland, R&B und Bebop. So | |
entwickelte sich die Londoner Clubszene zum kreativen Hotspot. Er übte | |
naturgemäß eine hohe Anziehungskraft auf Jugendliche aus, die von der | |
biederen einheimischen Popmusik der fünfziger Jahre angeödet waren: eine | |
wichtige Keimzelle für den britischen Bluesboom und die British Invasion | |
der Sixties. | |
## Ska statt Calypso | |
Jamaika hatte bis dahin in der Popszene der englischsprachigen Karibik eher | |
eine untergeordnete Rolle gespielt. Dominant war der wortgewaltige Calypso | |
aus Trinidad, der im Vereinigten Königreich schnell neue Themen fand: etwa | |
die Royal Family und ihre Rituale und das komische Essen, aber auch der | |
tägliche Existenzkampf und die rassistischen Anfeindungen. Für [2][die | |
erste Generation in Großbritannien aufwachsender karibischstämmiger | |
Jugendlicher] war Calypso dennoch passé, „Elternmusik“, wie der | |
Filmemacher, Musiker, DJ und Autor Don Letts erzählt. „Das war nicht unser | |
Leben oder unsere Attitüde, damit konnten wir nichts anfangen.“ | |
Die Musik seiner Teenagejahre in London war Ska. „Ska hatte seinen Ursprung | |
in dem Versuch, Rhythm ’n’ Blues zu machen“, erklärt Ska-Legende Derrick | |
Morgan in dem Buch „Ska – an Oral History“ der US-Expertin Heather | |
Augustyn. „Wir imitierten die Songs von Louis Jordan, Smiley Lewis oder | |
Professor Longhair. Da wir den korrekten Bluessound nicht hinkriegten, | |
fügten wir Gitarre und Piano hinzu, die diesen Ska-Sound machten, ‚ska, | |
ska‘ – deswegen nannten wir es Ska.“ 1962 erlangte Jamaika die | |
Unabhängigkeit von Großbritannien. Voller Optimismus sahen seine Bewohner | |
in die Zukunft. Ska war in seiner vorwärtstreibenden Gutgelauntheit die | |
Musik, die diesem Lebensgefühl entsprach. | |
## Skinheads hören Ska | |
Langsam sickerte diese energiereiche und entwaffnend swingende Musik auch | |
in die klassen- und stilbewusste weiße britische Working-Class-Subkultur | |
ein. Ab Mitte der sechziger Jahre hatten Ska-Titel eine zweite Heimat in | |
der Mod-Bewegung, in deren Mittelpunkt neben Soul aus New Orleans und | |
Detroit ansonsten die härteren der heimischen Gitarrenbands standen (The | |
Who, Small Faces). Quasi als Avantgarde bildete sich zu dieser Zeit die | |
Subsubkultur der „Skinheads“ heraus, deren Haupterkennungsmerkmal kurz | |
geschorene Bürstenfrisuren waren, mit denen sie auf die immer länger | |
werdenden Haare der Beat- und Rockgemeinde reagierten. | |
Diese Opposition zu den Langhaarigen zog mit der Zeit auch Rassisten und | |
Neofaschisten an, die sich ebenfalls, – wenn auch aus anderen Gründen – von | |
den liberal-libertären Hippies absetzen wollten. Nach einer Weile begannen | |
sie die Skinhead-Kultur zu dominieren, ohne dass sich jedoch der | |
musikalische Kanon verändert hätte, sodass auch rechtsradikale Skinheads | |
zur Musik jener Jamaikaner tanzten, die sie eigentlich am liebsten aus dem | |
Land geworfen hätten. | |
## Die Welt war danach eine andere | |
Dennoch wäre Ska heutzutage womöglich nur noch eine Fußnote der | |
Musikgeschichte, wäre nicht ein reicher weißer Mann auf den Plan getreten, | |
der der Musik den Weg in den Mainstream geebnet hätte: Chris Blackwell | |
gründete 1959 in London Island Records erklärtermaßen, um jamaikanische | |
Musik zu pushen. Der große Wurf gelang ihm im März 1964 mit der | |
Interpretation des US-R&B-Titels „My Boy Lollipop“ durch die erst | |
17-jährige Millie Small. Die Platte kletterte nicht nur in England, sondern | |
auch in den USA auf Platz zwei der Popcharts, war eigentlich fast überall | |
auf der Welt erfolgreich (Nr. 5 in der BRD) und hat sich bis heute in | |
verschiedenen Formaten rund sieben Millionen Mal verkauft. | |
Die Welt war danach eine andere. Mit „My Boy Lollipop“ hatte sich | |
jamaikanische Musik via London auch wirtschaftlich einen Platz in der Welt | |
der Popmusik erobert und dank nachfolgender Künstler wie Desmond Dekker und | |
Toots & The Maytals war dies nicht einmal ein Nischenplatz. Im Vereinigten | |
Königreich [3][lief jamaikanische Musik von nun an mit, wurde im Radio | |
gespielt, über gängige Vertriebskanäle verkauft, man könnte sagen: ernst | |
genomme]n. Dies nahm wenige Jahre später noch einmal ganz andere | |
Dimensionen an, als Bob Marley zum Weltstar aufstieg und in der Folge das | |
Reggae-Genre Weltgeltung erhielt und sich auch angloamerikanische Popstars | |
wie Eric Clapton und die Eagles darin überboten, Reggae-Beats und -Songs in | |
ihre Sets einzubauen. | |
Ska wiederum wurde Ende der 1970er von den Punks wiederentdeckt, und mit | |
Dub und Dancehall konnten sich weitere jamaikanische Genres weltweit | |
etablieren. Bei jüngeren Genres wie Drum ’n’ Bass und Grime ist der | |
jamaikanische Einfluss unüberhörbar, während in ganz Lateinamerika – und | |
mittlerweile auch sonst überall – Reggaeton gefeiert wird. Grund genug, die | |
„HMT Empire Windrush“ als Metapher für eine Kultur zu ehren, die übrigens | |
keineswegs nur aus Musik besteht. Aber das ist eine andere Geschichte. | |
22 Jun 2023 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
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