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# taz.de -- Erinnerung an Komponist Lord Kitchener: Die Calypsobräuche der Bri…
> In den 1950er Jahren brachte er die karibische Musik nach London: Aldwyn
> Roberts alias Lord Kitchener. Ein neues Album erinnert an ihn.
Bild: 1948 setzte der wahre Lord Kitchener schließlich an, das Vereinigte Kön…
Was war eigentlich vor den Beatles? Der Urknall? Gab es in Großbritannien
Popmusik? Wie könnte sie geklungen haben? Wie sah es dort überhaupt aus,
wie fühlte es sich an? Was für Menschen lebten dort?
Diesen Fragen widmet sich die Compilation-Reihe „London Is The Place For
Me“, die das in der britischen Hauptstadt ansässige Label Honest Jon’s seit
2002 zusammenstellt. Deren These ist, dass [1][die 1948 beginnende
Migration aus den Commonwealth-Ländern der Karibik und Westafrikas] die
musikalische Entwicklung Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg
entscheidend geprägt hat. Beweise dafür liefert sie auf bisher sieben
Veröffentlichungen in Form von Calypso-, Joropo-, Mento-, HiLife- und
etlichen anderen Produktionen, die im Vereinigten Königreich vor allem in
den 1950er und 1960er Jahren entstanden.
Volume 8 gilt jetzt ausschließlich Lord Kitchener. Wie bitte?, fragt da
irritiert der gut informierte Historiker. Der Lord Kitchener? Der
hochrangige Soldat Horatio Herbert Kitchener (1850–1916), einer der
unangenehmsten unter den finsteren Vertretern des britischen
Kolonialismus'? Neben ausgesprochen brutaler Kriegsführung in Ägypten, im
Sudan und in Südafrika ließ er im Burenkrieg (1899–1902) Ehefrauen und
Kinder feindlicher Kämpfer in Internierungslagern festsetzen, für die er
den Begriff „Konzentrationslager“ prägte. Was hat der Scharfmacher in einer
Compilation-Reihe zu nichteuropäischer Musik im Großbritannien der 1950er
Jahre zu suchen?
Gemach. Aldwyn Roberts kam 1922 in Arima zur Welt, einer Kleinstadt im
Norden Trinidads. Früh entdeckte er seine Liebe zur Calypso-Kultur, die
sich in seinem Heimatland gut 50 Jahre zuvor zu entwickeln begonnen hatte
und die nunmehr in voller Blüte stand. Schlank und hochgewachsen erhielt er
den Spitznamen „Bean“ und unter diesem Namen erlangte er auch erste
Popularität als Sänger und Songschreiber in seinem Heimatstädtchen. In den
frühen 1940er Jahren wurde er dort zum lokalen Calypso-„Champion“ gekrönt,
und der logische nächste Schritt war, es in der Hauptstadt Port of Spain zu
versuchen.
## Wie der Calypso-Champion seinen Namen bekam
Auch dort gewann er mit seiner eleganten Erscheinung, seinen ebenso
eleganten Reimen und seinen hochentwickelten Kompositionen schnell Respekt.
Sogar der Growling Tiger, seit den 1930er Jahren einer der führenden
Calypsonians, kam zum Debütauftritt des vielversprechenden jungen Mannes in
einem der vielen „Calypso Tents“. Laut Anthony Roberts’ „fictional
biography“ „Kitch“ ergab sich backstage folgender Dialog (verkürzt):
„‚Und wie nennst du dich?‘
‚Wie ich mich nenne? Aldwyn Roberts.‘
‚Ich meinte deinen Calypso-Namen, Kleiner.‘
'Na ja, man nennt mich ‚Bean‘.'
‚Bean? Hä? Bist du The Mighty Bean? Lord Bean? Butter Bean? Das ist kein
Calypso-Name. Da musst du dir schon was Besseres ausdenken.‘
‚Na ja, ich habe in Arima gewonnen, also nennen sie mich auch den Arima
Champion.‘
Tiger lachte: ‚Arima Champion? Was für ein beknackter Name ist das denn?‘
Dann aber wurde er ernst und sah Bean in die Augen und sagte: ‚Du brauchst
einen griffigeren Namen. Dies ist eine Sache für starke Männer. Die Leute
werden gnadenlos sein, wenn du einen schwachen Namen hast.‘ Er dachte nach,
fuhr dann fort: ‚Von heute an nennst du dich Lord Kitchener! Wenn dich
jemand fragt, sagst du, Growling Tiger hätte dir den Namen gegeben. Und ich
habe ihn dir gegeben, weil ich das Gefühl habe, dass du ein echter General
des Calypso werden kannst. Weißt du, wer Lord Kitchener war?‘
‚Ja, der Engländer, der General, der Feldmarschall …‘
‚Ja, und er pflegte übel zuzuschlagen, mein Junge …‘“
## Die hohe Kunst der Doppeldeutigkeit
Es mag einen erschüttern, dass ein Bewohner einer kolonisierten Insel sich
den Namen eines besonders üblen Kolonialisten gibt, um unter seinesgleichen
respektiert zu werden. Aber was für Namen hatten sich seine Mitbewerber
ausgesucht? Attila The Hun, The Roaring Lion, The Mighty Terror –
eigentlich doch genau das richtige Umfeld für Horatio Kitchener. Oder
steckt hinter dieser Namenswahl dieselbe Doppeldeutigkeit, bei der es im
Trinidad der Kolonialzeit nicht zuletzt darum ging, die Lächerlichkeiten
und die Doppelmoral der Kolonisten zu beschrieben – aber so, dass es die
Beschriebenen nicht bemerkten, was im Calypso zu einer hohen Kunst
entwickelt wurde?
1948 setzte der wahre Lord Kitchener schließlich an, das Vereinigte
Königreich zu erobern. Mit der ersten Gruppe von Migranten aus der Karibik
reiste er auf „HMT Empire Windrush“ ins gelobte „Mutterland“, und als d…
Reporter des wöchentlichen „Pathé Newsreel“-Kino-Nachrichtenprogramms ihm
bei der Ankunft das Mikrofon ins Gesicht hält, singt er ihm die erste
Strophe seines neuesten Calypsos vor:
„London is the place for me / London this lovely city / You can go to
France or America, / India, Asia or Australia / But you must come back to
London city“. Die Off-Kommentatorin befindet am Ende: „Entertainers from
the Caribbean might be the next wave of migrants. They brought enough
colour, excitement and style to make Britain smile again.“
Dass Kitch es trotz Alltagsrassismus – und zunehmender rassistischer
Gewaltexzesse – bis 1962 im Vereinigten Königreich aushielt, hat mehrere
Ursachen. Zum Ersten heiratete er eine Britin, mit der er etliche Jahre in
Manchester lebte, zum anderen hatte er im zunehmend
einwandererunterwanderten Vereinigten Königreich der 50er Jahre das größte
und womöglich auch verständigste Publikum der Welt. Er konnte Songs
komponieren, Alben aufnehmen, kontinuierlich auftreten (zur Not auch mal
als Bassist in Jazzbands) und so auskömmlich leben und seinen Ruhm mehren.
## Die Rolle des Auslandskorrespondenten
Im mother country hatte er nun direkten Einblick in die verrückten Bräuche
der bislang als exotische Aliens wahrgenommenen und beschriebenen Briten
und damit unendlich viel Stoff für neue Texte: „Manchester Football
Double“, „Constable Joe“, „No More Taxi“, um nur mal einige auch auf …
Compilation versammelten Calypso-Songs zu nennen. Damit schrieb er die
zentrale Funktion des Calypso als Nachrichtenmedium fort, wobei er
allerdings quasi die Rolle des Auslandskorrespondenten einnahm, der seinen
Landsleuten – den zu Hause gebliebenen wie denen, die sich wie er in
England niedergelassen hatten – das „mother country“ erklärte.
Für das breite britische Publikum war diese verspiegelte Sicht auf ihr
Leben vielleicht schon zu kompliziert. 1956 veröffentlichte Harry Belafonte
in den USA sein „Calypso“-Album (mit Hits wie „Banana Boat Song“), das …
in Großbritannien ein beispielloser Erfolg wurde – genauer gesagt: das
erste Album, von dem mehr als eine Million Exemplare verkauft wurden.
Nur, die mittlerweile mit etlichen Ex-Pats prominent besetzte britische
Calypso-Szene konnte nicht davon profitieren. Charts-Platzierungen blieben
ihr ebenso verwehrt wie ein nennenswerter Einfluss auf die weiße britische
Popszene. Sie blieb eine echte Subkultur, funktionierte vornehmlich im
Migranten-Milieu und deren unmittelbaren Umfeld, war im Mainstream der
britischen Kultur in den 1950er Jahren eine präsente, aber vor allem
exotisierend wahrgenommene Größe, letztlich nicht mehr als ein Teil des
kulturellen Grundrauschens, das keine größeren Ausschläge verursachte.
Anders als Ska erlebte Calypso lange keine romantisierende
Wiederentdeckung. Dass es dann doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts geschah,
hat nicht zuletzt mit den Honest-Jon’s-Compilations zu tun: Zeitgenössische
Künstlerinnen wie Lily Allen bedienten sich dort, ließen sich inspirieren
und sampelten etliche Parts.
„London Is The Place For Me Volume 8“ – untertitelt: „Lord Kitchener In
England, 1948-1962“ – gibt einen Überblick über Lord Kitcheners britische
Produktionen als lordschaftliche Doppel-LP in für das Label typischer
Edel-Ausstattung. Dennoch ist der CD-Käufer hierbei im Vorteil, da Honest
Jon’s in diesem Format Vol. 8 in einem Doppelpack mit Vol. 7 verkauft:
Diese Koppelung mit Songs diverser KünstlerInnen mit dem Untertitel
„Calypso, Palm-Wine, Mento, Joropo, String Band“ ist der perfekte Begleiter
zu Kitchs meisterhafter Calypso-Kunst.
22 May 2020
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[1] /Einwanderer-in-Grossbritannien/!5672908
## AUTOREN
Detlef Diederichsen
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