# taz.de -- Filmfestival Cannes 2023: Monster in der Familie | |
> Hirokazu Koreeda zeigt rätselhafte Schüler, Catherine Corsini sucht nach | |
> Identitäten, und Steve McQueen blickt auf das von Nazis besetzte | |
> Amsterdam. | |
Bild: Szene aus „Le Retour“ von Catherine Corsini | |
Vier Stunden für einen Film sind eine lange Zeit. [1][Der britische | |
Regisseur und Videokünstler Steve McQueen] hat sie sich genommen für seine | |
jüngste Arbeit, „Occupied City“ die er bei den Filmfestspielen in Cannes | |
außer Konkurrenz präsentierte. Um dem Premierenpublikum die Angst zu | |
nehmen, wies er ausdrücklich auf die Pause in der Mitte hin und zählte auf, | |
wo die nächstgelegenen Toiletten zu finden seien. | |
Ungeachtet der launigen Ansage ist „Occupied City“ eine ernste Arbeit. | |
McQueen, der mit Spielfilmen wie [2][„12 Years a Slave“] und [3][„Widows�… | |
unterschiedliche Genres erkundete, hat sich für seinen aktuellen | |
Dokumentarfilm der Geschichte Amsterdams unter der Besatzung durch die | |
Nazis angenommen. | |
„Occupied City“ zeigt Bilder des heutigen Amsterdam, während eine Stimme | |
aus dem Off die einzelnen Orte oder Gebäude beschreibt und von den | |
Schicksalen ihrer jüdischen Bewohner berichtet. Der Text beruht auf dem | |
Buch „Atlas of an Occupied City, Amsterdam 1940–1945“ der niederländisch… | |
Regisseurin Bianca Stitger, der Frau McQueens. Beide leben in Amsterdam. | |
## Bilder und Worte laufen parallel | |
McQueen lässt die Bilder und Worte parallel-, mitunter gar | |
auseinanderlaufen. Während der ersten Phase des Pandemielockdowns begonnen, | |
filmt er Menschen in ihren Wohnungen bei Zoomkonferenzen, ebenso wie | |
Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen. Eine Parallele zur | |
Kriegsvergangenheit ist zumindest, dass es in den Niederlanden bis zur | |
Pandemie keine Ausgangssperren mehr gegeben hatte. | |
Bild und Text konkurrieren oft miteinander, besonders wenn man deutlich | |
hört, was die gefilmten Personen sprechen. Die Aufmerksamkeit droht dann, | |
von der Bewegung der Bilder geleitet, vom Text wegzudriften. So als müsste | |
diese „darunterliegende“ Ebene des Geschichtlichen, etwa dass die | |
Niederlande der Staat mit den meisten jüdischen Opfern in Westeuropa sind, | |
sich dagegen wehren, von der Gegenwart verdrängt zu werden. Vier Stunden | |
für einen Film sind eine lange Zeit. Sie werden einem allerdings nicht | |
lang. | |
Wie lang einem [4][Catherine Corsinis Wettbewerbsbeitrag „Le retour“ wird, | |
ist eine andere Frage. Der Film, der vorab von einem Skandal um Übergriffe] | |
beim Dreh begleitet und vorübergehend wieder ausgeladen war, erzählt von | |
einer Mutter und ihren Töchtern, die nach 15 Jahren in Marseille nach | |
Korsika zurückkehren. Die Mutter, Khedidja, hatte ihre Töchter dort zur | |
Welt gebracht, die Insel nach einigen Jahren aber fluchtartig verlassen. | |
Jetzt versuchen sie, sich dort wieder heimisch zu fühlen. | |
## Verschiedene Identitäten | |
„Le retour“ verhandelt eine Reihe von Identitäten: die der Zugehörigkeit, | |
da sich die schwarze Familie dem Rassismus der Korsen stellen muss, die der | |
Sexualität, da Jessica, die ältere Tochter, sich in eine ungefähr | |
gleichaltrige Frau verliebt, und die des Familienzusammenhalts, da die | |
Rückkehr nach Korsika unerledigte Angelegenheiten Khedidjas wieder an den | |
Tag bringt. Das ist dank der drei Protagonistinnen bewegend erzählt. | |
Corsini hat sich andererseits sehr viele Fragen gleichzeitig vorgenommen, | |
was der Geschichte etwas gewaltsam Konstruiertes verleiht. | |
Im Wettbewerb gab es mit „Monster“ von Hirokazu Koreeda dafür schon einen | |
bemerkenswerten Beitrag. Ein Schüler, Minato, beginnt sich zu Hause | |
sonderbar zu verhalten. Die besorgte Mutter erfährt von ihm, sein Lehrer | |
habe ihn geschlagen und ihm beleidigende Dinge gesagt. Bei einem Besuch in | |
der Schule wirken die Lehrer wie ferngesteuerte Roboter, nicht wie echte | |
Menschen. Doch auch Minatos Mitschüler Yori wirkt recht sonderbar. | |
Anders als bei ihm üblich, spaltet Koreeda die Handlung in die Perspektiven | |
verschiedener Protagonisten auf. Das Geschehen klärt sich nach und nach, | |
einige Rätsel werden aufgelöst, andere bleiben. Auffällig ist zudem die | |
Dramatik, mit der „Monster“ inszeniert ist. So geht gleich zu Beginn des | |
Films ein Hochhaus in Flammen auf. Koreeda kontrastiert solche Szenen | |
jedoch wunderbar mit sentimental-verträumter Musik, die von keinem anderen | |
als [5][Ryūichi Sakamoto] stammt. Es ist der letzte Soundtrack des im März | |
verstorbenen Musikers. | |
18 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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