| # taz.de -- Feministischer Thriller „Widows“: Exquisiter sozialer Realismus | |
| > Plötzlich sind die Männer tot: Steve McQueens feministischer Thriller | |
| > „Widows“ hat den Mut, die Pfade des Genrefilms zu verlassen. | |
| Bild: Die eine hat Schulden bei nicht gerade zimperlichen Leuten: Viola Davis u… | |
| Das Kino treibt ein seltsames Spiel mit den Erwartungen der Zuschauer. | |
| Einerseits setzt man mehr und mehr auf die Verfilmung bereits bekannter | |
| Stoffe und eine Starbesetzung mit immer gleichen Namen. Andererseits soll | |
| alles neu und nie da gewesen sein; die „überraschende Plotwendung“ ist das | |
| wohl am meisten herbeigesehnte Element im Mainstreamkino. | |
| Wenn nun allein das Unerwartete und Ungewöhnliche zählen würde, dann müsste | |
| „Widows“, der neue Film des britischen Videokünstlers und | |
| Turner-Preisträgers Steve McQueen, ein Boxoffice-Hit werden. Nicht nur, | |
| weil es sich um einen Thriller, ein Heist-Movie, handelt, voller Wendungen, | |
| die man so nicht kommen sieht. Sondern auch weil mit Steve McQueen ein Mann | |
| Regie führt, von dem man keinen Genrefilm erwartet hat. Schließlich | |
| bewegten sich seine vorherigen Filme mit Themen wie IRA („Hunger“), | |
| Sexsucht („Shame“) und Sklaverei („12 Years a Slave“) klar im | |
| Arthouse-Problemfilmbereich. Und dazu noch sind die Helden im Zentrum von | |
| „Widows“ ganz gegen den Strich (auch von McQueens bisherigem Œuvre) | |
| besetzt: Es sind Frauen. | |
| Bloß ist es mit den Überraschungen und dem Unerwarteten dann doch nicht so | |
| einfach. In den USA ist „Widows“ trotz mehrheitlich positiver Rezensionen | |
| kein Boxoffice-Erfolg geworden. Bei den Oscars werden ihm auch keine allzu | |
| großen Chancen mehr bescheinigt. Statt herauszuragen aus dem Mainstream, | |
| scheint „Widows“ durch alle Raster zu fallen. Ein Film, der zwar in vielem | |
| überrascht und mit Unerwartetem konfrontiert, aber das eben nicht auf jene | |
| Weise, wie sie der Mainstreamkinozuschauer genießt. | |
| Das erste Bild ist so ziemlich das Gegenteil eines Gangsterfilmauftakts: da | |
| küsst sich ein im Bett liegendes älteres Paar, sie – schwarz, er – weiß,… | |
| heiterer Vertrautheit. Es ist Morgen, in der nächsten Szene sieht man ihn | |
| (Liam Neeson als Harry) in der Dusche stehen, sie (Viola Davis als | |
| Veronica) bringt ihm einen Flachmann – und trinkt dann selbst, wobei sie | |
| ihm zunickt, als wünsche sie ihm besonderes Glück für den Tag. Dazwischen | |
| blitzt wie eine dunkle Vorahnung die erste Actionszene auf: Vier Männer | |
| rauben etwas aus einer Lagerhalle, steigen in ein Fluchtauto, aber die | |
| Polizei ist ihnen schon dicht auf den Fersen. | |
| ## Kugelhagel, eine Explosion, vier tote Männer | |
| In hektischer Folge, immer zwischengeschnitten mit dem unguten Verlauf der | |
| Flucht, werden die anderen Männer bei ihrer letzten Begegnung mit ihren | |
| Frauen vorgestellt. Genauer gesagt, ist es umgekehrt: Die Frauen werden | |
| vorgestellt – und schon daran merkt man, dass die Männer in irgendeiner | |
| Weise „dem Untergang geweiht“ sind. Die Szenen sind zugleich von exquisitem | |
| sozialen Realismus: Linda (Michelle Rodriguez) streitet mit ihrem Mann um | |
| das Geld, das er für ihren Brautkleider-Laden aufgenommen hat; Alice | |
| (Elizabeth Debicki) reicht ihrem Mann die Kaffeetasse und wird von ihm | |
| dazu aufgefordert, doch ihr blau geschlagenes Auge zu überschminken; es so | |
| zu sehen würde ihm ein ungutes Gefühl machen. „Was glaubst du, was es mir | |
| macht“, gibt sie defensiv zurück – und lässt sich, wie es so oft der Fall | |
| ist in solchen Missbrauchsbeziehungen, dann doch wieder von ihm in den Arm | |
| nehmen. Von Amandas (Carrie Coon) Mann sieht man kaum das Gesicht, sie | |
| kümmert sich mehr um das kleine Kind im Babysitz, während er flüchtig ihren | |
| Nacken küsst zum Abschied. Im Parallelschnitt endet unterdessen der | |
| Raubüberfall im Desaster: Kugelhagel, eine Explosion, alle vier Männer sind | |
| tot. | |
| Geht diese Sequenz noch als gewissermaßen titelerläuternder – „Widows“ … | |
| Auftakt durch, mixt Steve McQueen mit einem Szenenwechsel hin zur Politik | |
| gleich das nächste Element hinzu, das wie gegen den Strich gebürstet | |
| verläuft. Da sieht man den Bürgerratskandidaten Jack Mulligan (Colin | |
| Farrell) mit Entourage im Wahlkampfquartier seines Konkurrenten, des | |
| Afroamerikaners Jamal Manning (Brian Tyree Henry). Stadtpolitik in Chicago | |
| – man glaubt zu wissen, was man hier vor sich hat: ein korrupter weißer | |
| Politiker, der den idealistischen aufstrebenden Schwarzen einzuschüchtern | |
| versucht. Aber dann erweisen sich die wahren Machtverhältnisse zwischen den | |
| beiden als ganz anders. | |
| Tatsächlich folgt „Widows“ nur in der Handlungsstruktur dem, was man vom | |
| Genre so kennt: Es stellt sich heraus, dass Berufsverbrecher Harry Schulden | |
| hatte, große Schulden bei nicht gerade zimperlichen Leuten. Und die bislang | |
| ahnungslose Witwe Veronica mit ihrem Hündchen, dem Fahrer und der | |
| Chicago-Luxuswohnung mit Seeblick weiß sich schließlich nicht anders zu | |
| helfen, als einen ihr vererbten Plan ihres Mannes aufzunehmen und den | |
| nächsten Raub zu begehen. | |
| So fordert sie die anderen Witwen zum konspirativen Treffen auf – und der | |
| Film setzt statt einer coolen Montage über Frauen, die einen Coup | |
| vorbereiten, wieder seine realitätsgesättigten, frauenspezifischen Spitzen: | |
| Amanda kommt nicht, schließlich hat sie einen Säugling; Linda meckert | |
| darüber, dass sie einen Babysitter besorgen muss; Alice kommt zu spät, | |
| weil sie davor ein Date mit einem zahlenden Verehrer hat. | |
| Es ist gar nicht leicht zu beschreiben, welche Strategie McQueen hier | |
| verfolgt: Unterwandert er das Genre, indem er es feminisiert? Stellt er es | |
| vom Kopf auf die Füße, indem er einen präzisen soziologischen Boden | |
| einzieht, der Geschlechter- und Rassenverhältnisse in den heutigen USA | |
| zentral setzt? Jede Verallgemeinerung geht vorbei an der Fülle der Details, | |
| mit denen McQueen aus „Widows“ so viel mehr macht als nur eine Version | |
| eines Heist-Movie „mit Frauen“. Was immer wieder wie irritierende Abwege | |
| vom Pfad des Genrefilms erscheint, etwa wenn mit Babysitterin Cynthia Erivo | |
| erst spät eine Ko-Konspiratorin eingeführt wird oder Veronicas Sohn | |
| plötzlich in Rückblenden auftaucht, erweist sich ein ums andere Mal als | |
| Zunahme von Komplexität – und damit von Dingen, die es noch zu begreifen | |
| gilt. | |
| Die beste Szene des Films, eine der gefeierten „Langeinstellungen“ des | |
| Kinojahres, fasst Chicagos konfliktreiche Stadtpolitik in einer | |
| ungeschnittenen Kamerafahrt zusammen: Sie begleitet Farrells Kandidaten von | |
| einem Jubelmeeting für eine Förderungsinitiative für „minority women“ in | |
| einem heruntergekommenen Viertel bis zurück zur schicken Villa, in der er | |
| selbst wohnt. Während der Autofahrt sitzt die Kamera auf der Haube und | |
| filmt das sich verändernde Stadtbild, während man aus dem Innern den | |
| Kandidaten mit seiner Beraterin streiten hört. „Widows“ ist gleichsam Kino | |
| als soziale Skulptur. | |
| 5 Dec 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
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