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# taz.de -- Gespräche mit Steve McQueen im Internet: Das Funkeln von Trickys G…
> Steve McQueen war der Erste, der Ausstellungen in beiden Tate-Galerien in
> London hatte. Nun sind sie wegen Corona geschlossen.
Bild: Steve McQueen, Standbild aus „Carib's Leap“, 2002
In der verdunkelten großen Halle kreiste auf einem zweiseitigen, von der
Decke hängenden LED-Monitor ein Helikopter immer wieder um die New Yorker
Freiheitsstatue. Der Blick war auf die Statue gerichtet und vom Helikopter
nur der pulsierende Lärm der Rotoren zu hören.
Er vermischte sich mit Zungenreden von der anderen Seite der Halle, wo auf
einem entsprechenden Monitor die Errungenschaften der menschlichen
Zivilisation präsentiert wurden: Raketen, mathematische Kalkulationen,
Symphonien – Teil der Inhalte der Voyager-Weltallmissionen. Es war eine
Welt ohne Armut, Krankheit oder Konflikte.
Dies war der Einstieg in und der Ausstieg aus einer Ausstellung des erst
kürzlich mit dem Ritterschlag der Queen geehrten britischen Künstlers und
[1][Filmemachers Steve McQueen] in der Londoner Tate Modern, bevor auch sie
wegen des Coronavirus ihre Pforten schließen musste.
Obwohl keines der 14 gezeigten Werke neu war, das früheste stammt aus dem
Jahr 1992, vermittelten sie zusammen einen neuen Fokus auf Gefühle,
unangenehme und auch verdrängte, die erst durch McQueens Bearbeitung
erkennbar werden. Auf diese Erfahrung müssen nun die Londoner genauso
verzichten wie BesucherInnen von außerhalb.
## Mit dem Finger ins ungeschützte Auge
Jetzt können oder müssen sie und alle anderen Interessierten auf den
virtuellen Raum ausweichen, wo die BBC zwei Gespräche über die Ausstellung
mit dem Künstler auf YouTube gestellt hat: Steve McQueen in der Tate
Modern: „[2][I have no choice but to create“] und „[3][Steve McQueen’s
ambitious art project“]. Vor allem das erste Gespräch sucht McQueens
filmischer und dramaturgischer Radikalität auf den Grund zu gehen.
In einem der Kurzfilme der Ausstellung selbst nähert McQueen seinen Finger
dem ungeschützten Auge von Charlotte Rampling und beginnt Haut und Lied
auseinanderzuziehen. Können Betrachter*innen dem ohne Unbehagen zusehen?
Und wie ergeht es ihnen, wenn im Film „End Credits“ (2012) einst geheime
FBI-Akten über den afroamerikanischen, prosowjetischen Schauspieler, Sänger
und Bürgerrechtler Paul Robeson (1898–1976) gezeigt und vorgelesen werden,
die mit dem Ziel angelegt worden waren, seinen Ruhm und seinen guten Ruf zu
vernichten?
Lässt sich der Film „Western Deep“ (2002) ohne Weiteres aushalten, obwohl
er mit dem betäubenden Lärm einer Aufzugfahrt beginnt, der den Boden im
Saal vibrieren lässt? Die Betrachter*innen befinden sich selbst in einem
stockdunklen Raum und fahren nun – mittels eines groben 8-mm-Films –
zusammen mit südafrikanischen Bergarbeitern in die tiefste Goldmine der
Welt. Albtraumartig vermischen sich Gesichter mit Bohrgeräuschen.
## Taubendreck auf der Freiheitsstatue
Was ist nur mit den perfekten Bildern der Menschheit und jenem Symbol
menschlicher Freiheit in der Eingangshalle geschehen? Selbst an der
Freiheitsstatue lässt sich beim wiederholten Hinsehen Taubendreck
entdecken.
Bei „Girls, Tricky“ (2001) kommt McQueens Kamera in der engen
Aufnahmekabine fast in Körperkontakt mit dem [4][Musiker Tricky.] Auf der
dunklen, grobkörnigen Filmspur funkeln die Goldzähne in Trickys Mund,
während er mit nackten Oberkörper über „böse Jungs“ singt, teils auch
schreit, ohne dass die Musik bis auf das Schlagzeug und etwas Bass hörbar
wäre, da sich die Musiker, die wie Zombies wirken, hinter einer dicken
Glasscheibe verbergen.
Die Betrachter*innen sind den Schreien Trickys einige Momente lang allein
ausgesetzt. Näher kann sie die Kamera kaum an das Wesen des Musikers
heranführen. Und auch nicht an die Befindlichkeit von McQueens Cousin
Marcus, wenn dieser erzählt, wie er aus Versehen beim Rauchen eines Spliffs
seinen Bruder erschoss. McQueen verzichtet hier auf bewegte Bilder,
stattdessen fokussiert er 23 Minuten lang Marcus’ rasierten Schädel, über
den quer eine auffällige Narbe verläuft.
Eine nahezu paradiesische Szene mit einem jungen Mann auf einem
Fischerboot, der sorgenlos in die Weite des Karibischen Meeres blickt,
bietet auch keine Rettung. Wir begegnen dem Mann bei seiner brutalen
Hinrichtung durch eine Drogengang ein Jahr später wieder.
## Zwischen Grabesstille und Meeresrauschen
Auf der anderen Seite der Meeresblickaufnahmen schaufeln und betonieren
Totengräber das Grab des Mannes, während die Geschichte seiner Ermordung im
Creole der Antillen dargelegt wird. All das vermischt sich mit dem
Meeresrauschen, die Szenen wachsen zusammen, schildern ein Leben der
Kontraste.
Das einzige nicht filmische Ausstellungsstück stammt aus dem Jahr 2016.
Auch hier geht es um Fragen der Freiheit und der Menschheit. Über einem
Bettgestell, das aus einem Gefängnis stammt, hängt ein mit 24-karätigem
Gold veredeltes Moskitonetz. „Weight“ – Gewicht – stand zuerst in der
englischen Haftanstalt Reading, in der einst Oscar Wilde inhaftiert war,
und wurde von McQueen anlässlich des 50. Jahrestags der britischen
Teillegalisierung von Homosexualität geschaffen.
Tate-Modern-Direktorin Frances Morris sprach bei der Eröffnung von einer
mehrfachen Premiere. Der 50-Jährige, in London aufgewachsene Künstler Steve
McQueen ist der Erste, der sowohl einen Oscar als auch den Turner-Preis
erhalten hat und der Erste, der Ausstellungen in beiden Tate-Galerien in
London hat. Klassenfotos aus 1.504 Londoner Grundschulen, die Steve McQueen
aufgenommen hat, konnten in der Tate Britain bewundert werden.
Sie wollen die Gegenwart beschwören. Es soll ein Besuch der Tate gewesen
sein, als McQueen acht Jahre alt war, der in ihm den künstlerischen Impuls
geweckt haben soll. Frances Morris nennt die Ausstellung ein
Nachhausekommen McQueens.
30 Mar 2020
## LINKS
[1] /Feministischer-Thriller-Widows/!5552007
[2] https://www.youtube.com/watch?v=aIgqPAbvf9c
[3] https://www.youtube.com/watch?v=PYaviurHwtg
[4] /Musikproduzent-Tricky-im-Interview/!5451757
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
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Steve McQueen
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