# taz.de -- Ausstellung in der Tate Modern London: Strategien zum Aufblühen | |
> Die Tate Modern widmet sich Lubaina Himid mit einer Retrospektive. Sie | |
> gehört zu den interessantesten britischen Künstler*innen. | |
Bild: Lubaina Himid, A Fashionable Marriage, 1984 | |
Bunte Banner mit Einzelteilen der menschlichen Anatomie wie aus einem | |
Medizinbuch empfangen die Besucher*innen vor einem der | |
Ausstellungsräume im ehemaligen Kraftwerk an der Themse. Darauf sind | |
Botschaften und Fragen zu lesen wie etwa: „Wie wird Veränderung | |
buchstabiert?“. Vielleicht ist die Antwort: Wie die große Überblickschau, | |
die die Tate Modern derzeit der britischen Künstlerin Lubaina Himid | |
ausrichtet? | |
Lubaina Himid, 1954 in Sansibar geborenen, gehört zu einer Reihe von | |
britischen Schwarzen Künstlerinnen, etwa Veronica Ryan (*1956) oder Sonia | |
Boyce (*1962), die sich trotz zweifacher Diskriminierung behaupten konnten | |
und bis heute aktiv sind und im Fall von Boyce 2022 Großbritannien auf der | |
Biennale von Venedig vertreten. | |
Dass Himid 2017 die erste Schwarze Frau und in ihrem Alter von 63 Jahren | |
gleichzeitig die älteste Künstlerin war, [1][der je der Turner-Preis | |
verliehen wurde], sagt einiges über die britische Gesellschaft und den | |
Kunstbetrieb im Besonderen aus. Ursprünglich studierte sie Bühnenbild, was | |
in der Installation der Ausstellung deutlich wird, die wie eine Bühne | |
gebaut ist und die Besucher*innen als Mitspieler*innen einlädt, | |
durch ihre Interpretation das Werk zu vollenden. | |
Deutlich ist aber jedem und jeder, dass Himid in ihren Bildern und | |
Installationen die gesellschaftliche Stellung Schwarzer Menschen in einer | |
Welt verhandelt, in der sie benachteiligt sind. Sie versucht mit den | |
Protagonisten ihrer Bilder und deren Betrachter*innen gemeinsam dagegen | |
Strategien und Pläne zu entwerfen. | |
## Bereit, die Meinung der anderen zu hören | |
In „The Operating Table“ (2019) sieht man drei Frauen an einem Tisch | |
darüber diskutieren, wie eine Stadt geplant werden soll, es geht dabei | |
nicht immer einvernehmlich zu, wie in „Five“ (1991) an den Mienen der Frau | |
und des Mannes zu sehen ist; sie debattieren über Politik, teils sicher | |
verfestigt in ihren Ansichten, aber immerhin bereit, die Meinung der | |
anderen zu hören. | |
In „Slice the Lemon“ (2020) sitzt eine mit Krone und Verdienstorden | |
geschmückte Frau – Himid besitzt selber einen Verdienstorden der Königin – | |
vor einem Tisch voller Zitronen. Das Messer in der Hand signalisiert | |
Tatkraft, doch ihr Blick konzentriert sich auf das hochstehende dunkle | |
Meer, draußen vor der Tür: Erfolg kann prekär sein. | |
In „Three Architects“ (2019) befinden sich drei Protagonist*innen auf | |
rauer See, auf einem Schiff, das sinken oder das sie ans Ziel ihrer Träume | |
manövrieren könnte, es ist nicht auszumachen. Und so warnt Himid in einem | |
anderen Bild: „Manchmal weißt du nicht, was du kriegst, bis es zu spät | |
ist.“ | |
Auch hier scheinen sich die Figuren im Inneren eines Schiffes zu befinden, | |
das sie vielleicht gerade aus einem der Länder des britischen Empires zur | |
Arbeit ins „Mutterland“ transportiert. Wohin geht es, in Freiheit oder | |
Sklaverei? | |
## Schwarze Menschen in Dienstleistungsberufen | |
Dort, wo diese Menschen schließlich landen, nimmt die Mehrheit sie nicht | |
wahr. Genau deshalb verweist Himid im ersten Raum ihrer Ausstellung auf die | |
vielen Schwarzen Menschen in Dienstleistungsberufen, und zwar anhand von | |
Warn- und Schutzhinweisen der jeweiligen Berufssparte. „Gebe ausreichenden | |
Schutz“, steht auf einem Bild aus dem Jahr 2019. | |
Von den überproportional vielen Schwarzen Menschen, die, bei der Arbeit | |
infiziert, in der Coronaviruspandemie ihr Leben verlieren, kann Himid da | |
noch nichts wissen. Auch was nicht sichtbar ist, versucht Hamid zu zeigen. | |
Ihrer Serie alter Leiterwagen deutet auf die Geister- und Phantomwelt | |
afrikanischer Kulturen hin. Und überraschend, wie eine kleine Entdeckung: | |
die im Innern einer Schublade verborgen Porträts Schwarzer Männer in der | |
ganzen Pracht ihrer besten Kleider. | |
In anderen Arbeiten experimentiert Himid in Zusammenarbeit mit der | |
Tonkünstlerin Magda Stawarska-Beavan, etwa in „Blue Grid Test“, inspiriert | |
von Janis Joplin. Hier überzieht Himid 64 Gegenstände aus aller Welt mit | |
einem blauen afrikanischen Muster. Für die Installation „Old Boat/New | |
Money“ mit wellenförmig aus Muschelmotiven aufgebauten Planken schuf | |
Stawarska-Beavan die Soundkulisse des Ächzens, Zerrens und Schlagens eines | |
Holzbootes auf See. | |
Der Ton vermischt sich mit anderen Werken im Saal, darunter die quer | |
gegenüber liegende Installation „The Fashionable Mariage“ (1984), Himids | |
dreidimensionale Neuinterpretation von [2][William Hogarths satirischem | |
Bild „Mariage à la Mode: 4. The Toilette“]. | |
## Auch bei neuen Installationen arbeitet sie mit Sound | |
Zentral ist für Himid ein im Original mit georgianischen Sexspielzeugen | |
spielendes Schwarzes kleines Mädchen, welches sie in ihrem Werk als junge | |
Black-Power-Literatur lesende Frau zur Hauptfigur der Szene transformiert. | |
Während dieses Werk akustisch sowohl mit klassischen als auch mit indischen | |
und ostafrikanischen Klängen begleitet wird, erinnern die durchdringenden | |
Tonfragmente von „Old Boat/New Money“ daran, dass Hogarth sein Bild zum | |
Höhepunkt des transatlantischen Sklavenhandels schuf und diese | |
Vergangenheit noch heute virulent ist. | |
Auch bei ihrer neuesten Installation arbeitet Himid mit Ton und erinnert an | |
die Sklaverei. Sie arbeitet dabei mit einer herkömmlichen | |
Fahrradabstellanlage, wie sie etwa vor Schulen oder Bahnhöfen zu finden | |
ist. Zu verschiedenen Rhythmen, darunter kubanischer Musik, werden Aussagen | |
einst versklavter Menschen vorgelesen. | |
„Möchtest du ein einfaches Leben?“, steht in blutverschmierter Farbe auf | |
dem Gerüst, vielleicht ein Wink auf die hohe Proportion Schwarzer Menschen | |
unter Mordopfern in London, von denen manche an Orten wie diesen ihr oft | |
junges Leben verlieren. | |
Und so erinnert man sich an die Frage vom Anfang „Wie wird Veränderung | |
buchstabiert?“. Vielleicht in dem man dieser Notwendig überhaupt gewahr | |
wird, wozu Lubaina Himids Schau in der Tate Modern gewaltig beiträgt. | |
16 Dec 2021 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
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