# taz.de -- Empire Windrush in der British Library: In London ist ihr neues Zuh… | |
> Zwei Ausstellungen in London beschäftigen sich mit der konfliktreichen | |
> Geschichte schwarzer MigrantInnen in Großbritannien. | |
Bild: Die Nachfahren der Windrush-Generation wollen nicht, dass die Geschichte … | |
Es gäbe viele Möglichkeiten, an die Verstrickung der Briten in den | |
Sklavenhandel zu erinnern. Aber es herrscht selektive Amnesie.“ Wäre er | |
noch am Leben, der in Jamaica geborene britische Kulturkritiker Stuart | |
Hall (1932–2014), der obiges postulierte, könnte zufrieden mit der Tatsache | |
sein, dass eine Seite seines Manuskripts samt handschriftlicher Korrekturen | |
nun in einer Ausstellung zu sehen ist, die genau diese Amnesie | |
beiseiteschiebt. „Windrush: Songs in a Strange Land“ läuft derzeit in der | |
British Library in London. | |
2018 ist ein besonderes Gedenkjahr in Großbritannien. Verschiedene | |
Ereignisse der Geschichte jähren sich. Am 22. Juni jährte sich zum 70. Mal | |
die Ankunft von 802 karibischen Arbeitskräften an Bord des Schiffes „HMT | |
Empire Windrush“. [1][Die Bezeichnung der Passagiere als „Windrush | |
Generation“] ist irreführend. Schon vor 1945 kamen, aktiv zum Aufbau des | |
„Mutterlandes“ rekrutiert, mehr als 500.000 Migrant*innen aus der Karibik | |
nach Großbritannien. | |
Bis das Vereinigte Königreich 1971 abrupt das Ende seiner liberalen Praxis | |
verkündete: Aufgrund seines EU-Beitritts verschärfte das Land die | |
Einwanderungsbedingungen.Während das Jubiläumswochenende mit den | |
Gedenkfeiern ohne großes Aufsehen über die Bühne ging, läuft die | |
sehenswerte Ausstellung in der British Library bis Ende Oktober. Im Bernie | |
Grants Arts Center im Bezirk Tottenham gibt es zudem die Schau „Black | |
Sound“ bis Frühjahr 2019 zu sehen, die musikalischen Leistungen | |
afrobritischer KünstlerInnen Großbritanniens hervorhebt. | |
Beide Ausstellungen zeigen einen Mentalitätswandel in der Darstellung von | |
schwarzen Briten, von einer marginalen, wirtschaftlich unsicheren Existenz | |
hin zu einer Integration in die Mehrheitsgesellschaft bis zum schwarzen | |
Selbstbewusstsein. Die heutige Generation empfindet genau, was es bedeutet, | |
schwarz und britisch zu sein. | |
## Es geht um Zugehörigkeit | |
Für Kuratorin Elizabeth Cooper geht es um Grundsätzliches, wie sie im | |
Gespräch mit der taz sagt. „Wir beziehen uns auf die Bedeutung von Freiheit | |
und Widerstand gegen Rassismus und zeigen den langen Konflikt um die | |
Zugehörigkeit zur Gesellschaft.“ „Windrush: Songs in a Strange Land“ ist… | |
sechs Themenfelder unterteilt, die den Stadien der Migration entsprechen. | |
Angefangen bei der Brutalität des transatlantischen Sklavenhandels bis zur | |
Erlangung der Bürgerrechte. | |
Am Ende ist eine Dokumentation zu sehen, die erst kürzlich im britischen | |
Fernsehen ausgestrahlt wurde. In ihr beschweren sich seit Jahrzehnten in | |
Großbritannien lebende karibische Migrant*innen über das Auslaufen ihres | |
Bleiberechts, obwohl sie nach der Ankunft lebenslange Duldung zugesichert | |
bekamen. Dieser Skandal führte vor wenigen Monaten auch zum Rücktritt der | |
Innenministerin Amber Rudd. „Wir haben mehr Rechte als Menschen vom | |
europäischen Kontinent, die in England arbeiten, weil wir es waren, die | |
bluteten, um dieses Land zu Reichtum zu bringen“, so beschrieb es 1956 | |
Samuel Selvon, der trinidadische und indischstämmige Autor des Romans „Die | |
Taugenichtse“, 2016 auch auf Deutsch veröffentlicht. | |
Unter vielen Tonaufnahmen ist besonders eine 1921 entstandene des | |
Panafrikanisten und Publizisten Marcus Garvey hervorzuheben. Der auf | |
Jamaika Geborene lebte zwischen 1912 und 1940 mehrmals in London, wo er | |
sich als Antwort auf den Rassismus für eine Auswanderung aller Schwarzen | |
nach Afrika aussprach. Zu diesem Behufe begründete er eine | |
Schifffahrtsgesellschaft. | |
Auch von anderen einflussreichen Intellektuellen wie dem marxistischen | |
Philosophen C. L. R. James sind Manuskripte zu sehen und Interviews zu | |
hören. Und eine Originalkopie des kolonialen Moyne-Berichts, in dem von | |
1934 bis 1938 eine Bestandsaufnahme der Lebensumstände in der Karibik | |
dokumentiert wurde. So schändlich war dessen Inhalt, dass die britischen | |
Behörden seine Ergebnisse zunächst unter Verschluss hielten und erst nach | |
Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichten. | |
## Traurige Berühmtheit | |
Was die Ankunft des Schiffs „HMT Empire Windrush“ am 21. Juni 1948 in | |
Tilbury nahe London angeht, verrät der Text der BBC-Nachrichtensendung vom | |
gleichen Tage, mit welchem gesellschaftlichen Klima die Schwarzen zu tun | |
bekamen. In ihm heißt es, „dass einige Unterhaus-Abgeordnete die | |
Richtigkeit der Entscheidung, 500 West-Indians ins Land reisen zu lassen, | |
bezweifeln“. Film- und Tonaufnahmen belegen, mit welchen Hürden die | |
Migranten in ihrer neuen Heimat konfrontiert wurden und wie sie diese | |
überwanden. | |
Traurige Berühmtheit erlangte etwa Kelso Cochrane, der aus Antigua nach | |
Großbritannien gekommen war und 1959 von drei weißen Jugendlichen in London | |
erstochen wurde. Seine Ermordung gilt als erste rassistisch begründete | |
Gewalttat in Großbritannien. Direkt daneben ist in einer Vitrine die | |
Ausgabe eines Hetzblatts zu sehen, in dem die afrikanisch-karibische | |
Bevölkerung als Gefahr für weiße Briten bezeichnet wird. Eines der ersten | |
Poster, das für den karibischen Karneval wirbt, wird ebenfalls gezeigt. Auf | |
Initiative der Aktivistin Claudia Jones begann der heute als Notting Hill | |
Carnival weltbekannte Faschingsumzug als direkte Antwort auf den Mord an | |
Cochrane. | |
[2][Die Geschichte der gesellschaftlichen Anerkennung schwarzer Briten ist | |
zum Teil mit heftiger Gewalt verbunden.] Erwähnt sei nur der Brand von New | |
Cross am 18. Januar 1981, bei dem 13 Teenager ihre Leben ließen. Die | |
Ursachen der Katastrophe sind bis heute ungeklärt, man geht von einer | |
Brandstiftung durch Faschisten als Tatmotiv aus. Auf einer | |
Windrush-Gedenkveranstaltung im Londoner Stadtratsgebäude zog denn auch der | |
britische Dub-Poet Linton Kwesi Johnson eine direkte Verbindung vom | |
todbringenden New-Cross-Feuer zum Grenfell-Hochhaus-Inferno des letzten | |
Jahres, bei dem viele Einwanderer ums Leben kamen. | |
In einer Vitrine liegen orangefarbene Informationskärtchen einer | |
Civil-Rights-Organisation in London aus den 1980er Jahren, die jungen | |
Schwarzen ihre Rechte erläutern, wenn sie aufgrund der sogenannten Suss | |
Laws festgenommen wurden. Diese ermächtigten die britische Polizei dazu, | |
anlasslos Angehörige der schwarzen Community zu kontrollieren. Positives | |
gibt es auch zu vermelden: Fotos der ersten schwarzen Abgeordneten des | |
Unterhauses, Diane Abbott, die ab 1987 für die Labour Party im Wahlkreis | |
Hackney-London im Parlament saß. | |
## Calypso-Meisterwerke | |
Musikalisch wird vieles in einer eigenen Sektion aufgezeichnet. Vergessene | |
Meisterwerke des Calypso, wie der Song „Trinidad Paseo“ der Lovey’s | |
Trinidad String Band aus dem Jahr 1912 und die in London beliebte Band Ken | |
Snakeship Johnsons, von der viele Mitglieder bei einem Bombenangriff der | |
deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg getötet wurden. Man hört Musik, die | |
erfolgreich aus der Karibik nach Großbritannien importiert wurde, etwa | |
„Island Girl Sally“, ein jamaikanischer Mento von Count Lasher, Vorreiter | |
des Reggae, aber stilistisch auch verwandt mit älteren Liedern der Sklaven. | |
Nicht zu vergessen Lord Kitchners legendäres Lied „London is the Place for | |
me“, verewigt durch eine Pathe-News-Filmcrew bei der Ankunft der „HMT | |
Windrush“. Oder Junior Marvins „Police and Thieves“, das zum | |
meistgespielten Song des Notting-Hill-Karnevals 1976 wurde, bei dem es zu | |
Unruhen kam. Später auch gecovert von der Punkband The Clash. | |
Während die Ausstellung in dieser Hinsicht vorbildlich ist, fehlt | |
gelegentlich Platz für historische Kontextualisierung. Dennoch ist „Songs | |
in a Strange Country“ die längst fällige Anerkennung und eine nötige | |
Korrektur in der Darstellung von afrikanisch-karibisch-britischer | |
Geschichte. Gibt es in der British Library viele Originaldokumente zu | |
bestaunen, fehlen solche bei „Black Sound“ im Bernie Grants Art Cente, | |
Tottenham. | |
Die beiden Musikhistoriker Lloyd Bradley und Scott Leonard haben dafür | |
übersichtlich nahezu die gesamte Geschichte schwarzer Musik in | |
Großbritannien in Tönen und Fotos zusammengetragen und bieten ein | |
spannendes Begleitprogramm mit Konzerten und Filmen. Von Florence Mills bis | |
hin zu Grime. „Black Sound“ endet mit den Worten: „Das einst Verachtete | |
zwingt nun den Mainstream mitzuhalten, ein Triumph von Wertefreiheit, | |
Dreistigkeit des Geistes, Selbstregulierung und Schinderei – Willkommen in | |
der kreativen Unabhängigkeit.“ Unter den Besuchern sollen auch | |
Politiker*innen gesichtet worden sein. Schwarze britische Geschichte ist | |
Mainstream. Stuart Hall hätte das gefallen. | |
10 Sep 2018 | |
## LINKS | |
[1] /WindrushMigranten-in-Grossbritannien/!5503145 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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