| # taz.de -- Corsinis neuer Film über Klasse: An den Rand, wo Klarheit herrscht | |
| > Zwischen Klassenzugehörigkeit und Ausgrenzung: In Catherine Corsinis | |
| > „Rückkehr nach Korsika“ überschlagen sich die Ereignisse. | |
| Bild: Jessica (Suzy Bemba) taucht in die Welt der Reichen ein | |
| Wiederholungszwang ist nicht selten in den Filmen Catherine Corsinis am | |
| Werk. Eine ihrer früheren Arbeiten, „La Répétition“ (2001), trägt die | |
| Wiederholung sogar im Titel. In diesem Film flammte eine ungute | |
| Freundschaft zwischen zwei Frauen erneut auf, offenbarte die Obsession der | |
| einen für die andere und endete damit, dass ein Auto immerzu im Kreis fuhr, | |
| um nochmals einen Blick auf das flüchtige Objekt der Begierde zu erhaschen. | |
| Corsinis Figuren suchen nahezu traumwandlerisch nach den Fäden der | |
| Vergangenheit, sind angezogen von bedeutsamen Lebensorten, sind nicht | |
| begabt im Loslassen. | |
| In Corsinis neuem Film [1][„Rückkehr nach Korsika“, der im vergangenen Jahr | |
| im Wettbewerb von Cannes zu sehen war], bringt eine Fähre Khédidja | |
| (Aïssatou Diallo Sagna) und ihre beiden Töchter Jessica (Suzy Bemba) und | |
| Farah (Esther Gohourou) vom französischen Festland nach Korsika. Hier, eine | |
| Art Prolog macht es deutlich, waren alle drei bereits zuvor: Jessica und | |
| Farah saßen da als kleine Mädchen neben Khédidja auf der Rückbank, das | |
| Verlassen Korsikas schien fluchtartig, ein klingelndes Telefon ließ auf | |
| eine unheilvolle Botschaft schließen. | |
| Gut fünfzehn Jahre später, Khédidja arbeitet mittlerweile als Kindermädchen | |
| für eine reiche Pariser Familie, wird sie beauftragt, deren ungezogene | |
| Sprösslinge auch während der Sommerferien zu betreuen. Das Anwesen samt | |
| Pool liegt, wie der Zufall und die Drehbuchautorinnen Catherine Corsini und | |
| Naïla Guiguet es wollen, auf Korsika. Khédidja beschließt, ihre nunmehr | |
| (fast) erwachsenen Töchter mitzunehmen. | |
| ## Corsini macht aus kitschigen Konstellationen etwas Schlaues | |
| Ein Trip, der für die Schwestern Jessica und Farah auch ein unspektakulärer | |
| Strandurlaub hätte werden können, der aber zum verwirrenden, augenöffnenden | |
| Parcours gerät. Er rüttelt nicht nur ihr eigenes Verständnis des Gewesenen | |
| durcheinander, sondern weist auch Wege in eine mögliche Zukunft, die sich | |
| zumindest eine von ihnen kaum hätte ausmalen können. | |
| Es ist kein Geheimnis, dass sich im Kino binnen kürzester Zeit Geschichten | |
| ereignen, bei denen einem mitunter schwindelig wird. In rasendem Tempo | |
| greifen Stränge ineinander, werden höchst unwahrscheinliche | |
| Gleichzeitigkeiten hergestellt, geschieht wenig einfach so. Einige | |
| Regisseurinnen und Regisseure sind auf dieser Spur schneller unterwegs als | |
| andere, agieren bahnbrechender und mutiger, teils auch alberner. Catherine | |
| Corsini hat eine Begabung, auch aus sehr kitschigen, überzeichneten | |
| Konstellationen etwas Mitreißendes, Schlaues zu machen. | |
| In „Partir“ (2009) etwa brannte eine reiche, aber unglückliche und | |
| unterdrückte Ehefrau (Kristin Scott Thomas) mit einem attraktiven, | |
| gebrochenen und vorbestraften Handwerker (Sergi López) durch, was wiederum | |
| in einem unermüdlichen Rachefeldzug des gebeutelten Ehemanns mündete. Ein | |
| Stoff wie aus der Bahnhofsbuchhandlung, den Corsini allerdings | |
| ausgezeichnet darzubieten verstand und der seinen universalistischen Kern | |
| ganz ohne intellektuelles Beiwerk vermittelte. | |
| ## Auftakt eines Kräftemessens | |
| „Rückkehr nach Korsika“ möchte da schon ein bisschen mehr, aber auch hier | |
| spielen Klassenzugehörigkeit und Ausgrenzung wichtige Rollen. Khédidja, | |
| Farah und Jessica stehen dabei für drei Frauen, die mit ihren | |
| (rassistischen) Erfahrungen ganz unterschiedlich umgehen. Während Khédidja | |
| sich auf eine gewisse Weise mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben scheint | |
| – und die tiefsitzenden Ressentiments der Korsen bereits in einer früheren | |
| Partnerschaft erfahren musste –, überflügelt sie Jessica als ausgezeichnete | |
| Studentin und wird im Kreise der wohlhabenden Pariser schnell zu einem | |
| Gegenentwurf stilisiert: So hätte man auch die eigene Tochter Gaïa (Lomane | |
| de Dietrich) gern, die das Faulenzen der Lernerei vorzieht. | |
| Die spannendste und konfrontativste Attitüde aber ist Farah zu eigen: | |
| Gleich nach der Ankunft auf der Insel – übernachtet wird auf einem | |
| abgelegenen Campingplatz und nicht im palastähnlichen Feriendomizil – gerät | |
| sie am Strand mit dem jungen Korsen Orso (Harold Orsini) aneinander. Der | |
| hat es auf eine Gruppe Kinder abgesehen, beschimpft diese, woraufhin ihn | |
| Farah zur Rede stellt und umgehend selbst in die Mangel genommen wird. | |
| Es ist der Auftakt eines Kräftemessens, das nicht nur viel über jenes | |
| sonderbare Korsika und seine Gepflogenheiten preisgibt, sondern auch Farah | |
| und mit ihr Esther Gohourou in den Mittelpunkt rückt. Ihrer energetischen, | |
| unbekümmerten Verkörperung einer im besten Sinne grenzüberschreitenden | |
| Jugendlichen beizuwohnen, zählt zu den großen Freuden dieses Films. Und | |
| auch Harold Orsini, den man schon in Corsinis vorherigem Cannes-Beitrag „La | |
| Fracture“ (2021) kurz kennenlernen durfte, erweist sich als nicht | |
| unkomplexer, libidinös aufgeladener Gegenpart. Zudem steht das | |
| Umeinanderkreisen von Farah und Orso für den zentralen Katalysator in | |
| Corsinis Werk: das nicht selten überraschend über einen kommende Begehren. | |
| Ein Begehren, das nicht sein darf oder wenigstens skeptisch beäugt werden | |
| muss. Eines, das man sich nicht eingestehen kann, weil es das eigene | |
| Selbstbild auf den Kopf stellt. Ein Begehren, dem man sich hingibt und | |
| damit im gleichen Zug Schranken einreißt, deren Existenz für andere die | |
| Welt bedeuten. Immer wieder widmet sich Catherine Corsini diesem Motor, der | |
| es ihr ermöglicht, auf eine profunde, körperliche Art in gesellschaftlichen | |
| Konventionen zu bohren, sie zu adressieren und zu konfrontieren. | |
| ## Vitalität, die häufig an einem Grenzbereich kratzt | |
| In „Rückkehr nach Korsika“ verführt Gaïa, verwöhnt und gelangweilt, die | |
| brave Jessica mit bestechender Nonchalance. Was für die eine etwas | |
| Spielerisches, wenig Forderndes hat, eröffnet für die andere einen Zutritt | |
| zu einer Schicht, die einen völlig neuen Möglichkeitsraum bietet. Corsini | |
| interessiert sich für derlei Überschreitungen und genießt es, die auf sie | |
| folgenden Kaskaden zu analysieren und auszuerzählen. Das funktioniert mal | |
| mehr und mal weniger glaubhaft – es gibt durchaus eine Tendenz zum sich | |
| überschlagenden Narrativ. | |
| Denn immer wieder werden die von Corsini aufgebauten Anordnungen auf die | |
| Spitze getrieben: In „La Fracture“ musste eine lange etablierte Figur | |
| letztlich und unvermittelt doch verunglücken, in „La Belle Saison“, eine | |
| lesbischen Romanze vorm Hintergrund der Frauenbewegung in den siebziger | |
| Jahren, kam es zu Ohrfeigen und diversen Ein- und Ausstiegen in einen Zug | |
| nach Paris. „La Répétition“ endete beinahe in einem Mord, und „Partir“ | |
| gipfelte mit einem tatsächlich betätigten Gewehr. | |
| Catherine Corsini ist keine Regisseurin der leisen, subtilen Töne. | |
| Leidenschaften und ein großer Drang, Bestehendes zu überwinden | |
| beziehungsweise unbedingt einzuhegen, versehen ihre Figuren mit einer | |
| Vitalität, die häufig selbst an einem Grenzbereich kratzt. In „Rückkehr | |
| nach Korsika“ manifestiert sich dieses Verlangen vielleicht am ehesten in | |
| einer fantastischen, bald 15-minütigen Sequenz, die sich einer einzigen | |
| Partynacht widmet: Befeuert von Alkohol, Drogen und den jeweils ganz | |
| eigenen Motiven kommt es hier zu einer rauschhaften, erschreckend | |
| dynamischen Kulmination. | |
| Das alles ist ein ziemlicher Ritt, eine überbordende Sommergeschichte, zu | |
| deren Wiederholungs- sich möglicherweise auch ein Entwicklungszwang | |
| gesellt. Catherine Corsini treibt ihre Erzählungen an den Rand, bis zum | |
| Punkt, an dem endlich Klarheit herrscht. Sie lässt das zu. Oder, wie sie | |
| selbst sagt: Sie sollen sich bewegen wie ein Stein, der keine Hindernisse | |
| überwinden muss und einfach rollen kann. | |
| 13 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Carolin Weidner | |
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