Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Korsika-Roman „Nord Sentinelle“: Wie die Heuschrecken
> Jérôme Ferrari erzählt in seinem Roman „Nord Sentinelle“ von
> Familienbanden auf Korsika. Die Insel leidet unter Gewalt und
> Massentourismus.
Bild: Das Korsika in Ferraris „Nord Sentinelle“ ist alles andere als ein fr…
Richard Francis Burton, der englische Afrikaforscher und Übersetzer von
„Tausendundeine Nacht“, erhielt im Januar 1855 von Sultan Ahmad ibn Abu
Bakr die Erlaubnis, die heilige Stadt Harar zu betreten. Das war bis dahin
keinem Europäer erlaubt gewesen. Der Sultan ließ ihn nach zehn Tagen wieder
ziehen, ohne ihn zu töten und ohne der Prophezeiung, dass der Eintritt
Fremder in die Stadt zu ihrem Untergang führe, Glauben zu schenken. Ahmad
ibn Abu Bakr starb ein Jahr später an Schwindsucht und bekam nicht mehr
mit, wie Harar 1875 fiel.
Hätte er es gewusst, schreibt [1][Jérôme Ferrari] zu Beginn seines neuen
Romans „Nord Sentinelle“, hätte er „wahrscheinlich nicht den fatalen Feh…
begangen, Captain Burton zu verschonen, und er hätte damit recht gehabt. Es
ist keine Prophezeiung vonnöten, um zu wissen, dass der erste Reisende
stets unzählige Katastrophen nach sich zieht.“
Jérôme Ferrari erzählt die Geschichte von Richard Burton, weil ihm der
Einfall der Europäer in Harar ganz ähnlich erscheint wie der Einfall der
Touristen auf Korsika. In „Nord Sentinelle“ heißt der Reisende, der dort
mit Freunden Urlaub macht, Alban Genevey und ist ein Medizinstudent aus
Paris. Die Katastrophe geschieht, als er auf einer Hafenpromenade inmitten
von Touristen von Alexandre Romani brutal niedergestochen wird. Alexandre,
der Sohn von Philippe, dem besten Freund des namenlosen Erzählers, und
Catalina, seiner Cousine.
Der Leser erfährt von Alexandres Tat gleich am Anfang. Wie in „Balco
Atlantico“, Ferraris Roman über die Gewalt der Unabhängigkeitsbewegung auf
Korsika, erhält die Geschichte von „Nord Sentinelle“ ihre erzählerische
Energie aus dem Gefühl des Entsetzens und des Unverständnisses über das,
was Alexandre getan hat. In immer neuen Anläufen umkreist der Erzähler die
Tat, berichtet von der Vorgeschichte und versucht, sich das Geschehen zu
erklären. Doch nie genügen ihm die Antworten, immer wieder setzt er neu an.
Die schleichende Veränderung der Insel durch den Tourismus seit den 1980er
Jahren, die soziale Strukturen zerstört und mafiöse Strukturen gefördert
hat, ist einer der Versuche, die Katastrophe zu erklären; ein anderer ist,
die Antwort in der Familiengeschichte der Romanis zu finden, die ihr
fragwürdiges Selbstbewusstsein und ihren Reichtum über mehrere Generationen
mit krimineller Energie und Gewalt aufgebaut und an die Nachkommen
weitergegeben haben.
## Emotional tief mit Korsika verbunden
In einem Nebenstrang des Romans wird von Pierre-Marie Romani erzählt, der
es mit seiner kurzen, blutigen Karriere in den 1930er Jahren, romantisch
als Bandit verklärt, in eine Zeitschrift gebracht hatte. Dort wird er als
„ein Held mit reinem Herzen“ geschildert, „der sein Leben ausschließlich
dem Dienst an der Gerechtigkeit widmete“. Sein früher Tod wurde nie ganz
aufgeklärt; man fand seine Leiche in der Nähe eines Dorfes, aus dem er ein
junges Mädchen vergewaltigt hatte.
Jérôme Ferrari ist wie sein Erzähler emotional tief mit Korsika verbunden.
In der Banlieue von Paris in einer korsischen Familie aufgewachsen, ist er
nach einem Philosophiestudium als Lehrer auf die Mittelmeerinsel gegangen.
Nach sieben Jahren verließ er Korsika wieder und arbeitete jahrelang an
verschiedenen französischen Auslandsschulen, um dann wieder auf die Insel
zurückzukehren.
Die prekäre Identität Ferraris, der 2012 für seinen Roman „Predigt auf den
Untergang Roms“ mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem
[2][Prix Goncourt], ausgezeichnet wurde, ist auch in „Nord Sentinelle“
eingegangen. So verlässt auch hier der Erzähler für zehn Jahre Korsika. Am
Ende jedoch, nach seiner Rückkehr, erkennt er: „Ich weiß, dass ich, wie
jeder von uns, niemals etwas anderes sein werde als ich selbst und dass
mein Platz nicht auf den Dünen liegt und nicht an den Küsten der Meere von
fremdartiger Farbe, sondern hier, allein hier, in der Stille oder Raserei
des Hafens.“
## Für Armut und Bildungsdrang verachtet
Philippe Romani ist das genaue Gegenteil des namenlosen Erzählers.
Wahrscheinlich, so vermutet er, hat er ihn immer für seine Armut und seinen
Bildungsdrang verachtet. „Was völlig normal war: wir besaßen nichts, wir
hatten stets ehrlich gearbeitet, fern aller Bordelle und Spelunken, wir
waren in der Schule fleißig, sobald wir die Gelegenheit dazu hatten, wir
verehrten Kultur und Bildung, denn nichts war uns wichtiger, als uns aus
der Scheiße zu ziehen.“
Der Reichtum der Romanis, ihre Familiengeschichte und ihre
Rücksichtslosigkeit, bedurfte weder Kultur noch Bildung. Beides hatte auch
Philippe nie interessiert, und dass Catalina mit ihm eine Liebesbeziehung
eingeht, bleibt dem Erzähler ein Rätsel. Noch unverständlicher ist ihm,
dass sie von Philippe auch noch Alexandre bekommt, kurz nachdem sich die
beiden – angeblich einvernehmlich – getrennt haben.
Es ist Jérôme Ferraris Schreibweise, die „Nord Sentinelle“ zu einem so
guten Roman macht. Sie ist Ausdruck seiner ambivalenten Identität, Ergebnis
seiner Liebe zu Korsika bei gleichzeitiger Abscheu vor der dortigen Gewalt.
Einer Insel, die seit den 1980er Jahren vom Tourismus überrannt wird und
noch bis 2014 unter einer Unabhängigkeitsbewegung litt, die vor Terror
nicht zurückschreckte. Ein Ort, der bis heute unter der Geißel der Mafia
und der höchsten Mordrate in Europa leidet. Ferraris lange, kunstvoll
geflochtene Sätze, die von Christian Ruzicska adäquat ins Deutsche
übersetzt wurden, ziehen den Leser durch den Text.
Die prekäre Identität seines Erzählers trifft auf ein heute weit
verbreitetes Lebensgefühl. Von ihr profitieren auch seine Nebenfiguren, wie
die überzeugend erzählte Freundin von Alban Genevey, die aus einer
Migrantenfamilie stammt. Ferrari kennt dieses Milieu genauso wie das der
Eingeborenen. Ein Platz zwischen den Stühlen, das zeigt „Nord Sentinelle“,
macht das Leben nicht unbedingt einfacher, aber die Literatur besser.
7 May 2025
## LINKS
[1] /Jerme-Ferrari-ueber-Roman-Das-Prinzip/!5018682
[2] /Roman-von-Mohamed-Mbougar-Sarr/!5900406
## AUTOREN
Fokke Joel
## TAGS
Roman
Korsika
Massentourismus
Gewalt
Französische Literatur
Französisches Kino
Französische Literatur
Schwerpunkt Frankreich
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer Roman von Patrick Modiano: Ein Leichtgewicht
Nach bewährtem Muster: Patrick Modiano durchstreift in seinem neuen Roman
„Die Tänzerin“ das nur allzu gut bekannte Paris der Erinnerung.
Corsinis neuer Film über Klasse: An den Rand, wo Klarheit herrscht
Zwischen Klassenzugehörigkeit und Ausgrenzung: In Catherine Corsinis
„Rückkehr nach Korsika“ überschlagen sich die Ereignisse.
Roman von Mohamed Mbougar Sarr: Fasziniert vom Schweigen
Für „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ wurde der Autor mit dem Prix
Goncourt ausgezeichnet. Nun erscheint das Buch auf Deutsch.
Jérôme Ferrari über Roman „Das Prinzip“: „In Quantenphysik steckt Lite…
Der französische Schriftsteller Jérôme Ferrari über seinen Heisenberg-Roman
„Das Prinzip“, die Rolle von Fantasie in Forschungen und das Lernen aus
Geschichte.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.