# taz.de -- Roman von Mohamed Mbougar Sarr: Fasziniert vom Schweigen | |
> Für „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ wurde der Autor mit dem Prix | |
> Goncourt ausgezeichnet. Nun erscheint das Buch auf Deutsch. | |
Bild: Geboren im Senegal, heute in Frankreich zu Hause: Mohamed Mbougar Sarr | |
Was zählt, ist das Leben. Das Werk kommt erst danach.“ So schreibt Mohamed | |
Mbougar Sarr in seinem Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“. 2021 | |
wird der damals 31-Jährige dafür mit dem prestigeträchtigen Prix Goncourt | |
geehrt. Kurz darauf scheint sich die Aussage aus seinem Buch wie eine | |
Prophezeiung selbst zu erfüllen. Der Preisträger des wichtigsten | |
französischen Literaturpreises: ein Senegalese? | |
Europäische Zeitungen betiteln Sarr als „Autor aus Subsahara-Afrika“, der | |
durch seinen „Hintergrund“ auffalle. Senegals Präsident Macky Sall | |
gratuliert auf Twitter seinem „Landsmann“. Ein Leser schreibt, Sarrs Werk | |
sei ein Beispiel für die „Exzellenz senegalesischer Literatur“. Was damals | |
folgt, sind zahlreiche Interviews. Rezensionen zu seinem Werk: eher | |
weniger. | |
Die Geschichte um die Veröffentlichung von Sarrs Roman ist bezeichnend für | |
sein Buch: Nicht nur, weil Sarrs Werk in der öffentlichen Diskussion oft an | |
seinem Leben als Senegalese gemessen wird, sondern auch, weil der Titel | |
autobiografisch – und damit tatsächlich vom Leben des Autors – inspiriert | |
ist. Schließlich, weil Leben und Werk sich bei Sarr so immer wieder | |
vermischen, die Rezeption seines Lebens wie eine Wiederkehr seines Werkes | |
wirken – und das teilweise bewusst. | |
„Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ist verfasst aus der Sicht eines im | |
Senegal geborenen Erzählers und angehenden Schriftstellers, der wie Sarr | |
nach Frankreich auswandert. Dort stößt er auf den Roman eines fiktiven | |
Autors, der im Frankreich der 1930er Jahren unter dem Namen T.C. Elimane | |
debütiert. | |
## Der schwarze Rimbaud | |
Für seinen Roman „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ feiert ihn das | |
französische Publikum als „schwarzen Rimbaud“. Doch schon bald nach | |
Veröffentlichung seines Werks beschuldigen ihn seine Kritiker, | |
abgeschrieben zu haben. So ein herausragendes Buch von einem Schwarzen? | |
Unmöglich. Der Verlag stellt den Verkauf ein, T.C. Elimane verschwindet, | |
ohne jemals einen weiteren Text zu veröffentlichen. | |
Der Erzähler ist fasziniert von dessen Geschichte: Kann ein Mensch aus der | |
Erinnerung gelöscht werden? Er recherchiert zu Elimane über Jahrhunderte | |
und Kontinente hinweg, sammelt Sachbuchtexte, Tagebucheinträge, mündliche | |
Erzählungen von Familie und Freunden. | |
Sarr arbeitet dazu mit teilweise kompliziert ineinander verschachtelten | |
Erzählebenen. Geschichten überlappen sich, verstricken sich aber manchmal | |
auch in Widersprüchen. So bleibt ein diffuses Konstrukt jener Figur T.C. | |
Elimane, von der zwischendurch nicht einmal klar ist, ob sie überhaupt | |
existiert. „Vielleicht können alle Menschen so verschwinden“, schreibt | |
Sarr. „Aber kann man glauben, dass jemand verschwindet, ohne etwas zu | |
hinterlassen?“ | |
## Weder Biographie noch Autobiographie | |
In Sarrs Roman finden sich immer wieder Berührungspunkte zum realen Leben – | |
so auch zum Autor selbst. Sarr, geboren 1990 in Dakar, stammt aus einer | |
senegalesischen Aufsteigerfamilie: Sein Vater arbeitete als Arzt, besaß als | |
Erster in der Familie eine universitäre Ausbildung. Im Haushalt der Familie | |
gab es keine Bücher, wie er sagt. „Aber Bildung spielte für meine Eltern | |
eine große Rolle. Bildung bedeutete Macht.“ Die lag in Europa. Als einer | |
der besten Schüler seiner Klasse schaffte Sarr es auf eine Eliteschule in | |
Frankreich. | |
Gewidmet hat Sarr sein Buch dem 1940 in Mali geborenen Schriftsteller Yambo | |
Ouologuem. In Frankreich wurde jener für seinen Debütroman „Le devoir de | |
violence“ („Das Gebot der Gewalt“) mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet. | |
Nach Plagiatsvorwürfen zog er sich nach Mali zurück – und schrieb von da an | |
keine Zeile mehr. | |
Sarr fühlte sich von dessen Schweigen fasziniert, sagt er. „Mich | |
interessierte, was ein Buch mit seinem Autor macht“, so Sarr. „Mit seinem | |
Roman hat Ouologuem nicht nur seine Karriere geopfert, sondern auch all | |
seine Leidenschaft für Literatur.“ | |
In Sarrs Buch liest sich das Schweigen T.C. Elimanes als ein durchaus | |
gewollter Akt und Teil seiner Identität. „Sich in seinem Werk auslöschen zu | |
wollen, ist nicht immer ein Zeichen von Demut“, kommentiert ein Freund des | |
Erzählers. „Selbst die Sehnsucht nach dem Nichts kann eine eitle Sache | |
sein.“ Elimane ist nicht greifbar; er bleibt als Figur unterschiedlicher | |
Erzählungen eine „lebendige Illusion“, ein „Gespenst“: „Man kann Eli… | |
nicht treffen. Er erscheint einem.“ | |
## Absage an den französischen Literaturbetrieb | |
Auch Sarr ist in dem Buch nicht greifbar. Im Gespräch mit der taz betont | |
er, es handle sich weder um Biografie noch Autobiografie – das Buch sei | |
auch keine reine Fiktion, sondern etwas „dazwischen“, eine Form von „Real | |
Fiction“. Sarr ist sich seiner Rolle im französischen Literaturbetrieb aber | |
durchaus bewusst – und inszeniert die Interpretation seines Lebens | |
teilweise spielerisch in seinem Roman: „Die geheimste Erinnerung der | |
Menschen“ liest sich wie eine Absage an den französischen Literaturbetrieb. | |
Bei Sarr ist er eine elitäre Bubble, beherrscht von kultureller | |
Unterdrückung. Die Figuren, viele von ihnen mit migrantischem Hintergrund | |
wie Sarr selbst, beschreiben sich als Opfer der Kolonialisierung und | |
„Schändung unserer Geschichte“. Währenddessen müssten „wir“ weiter �… | |
riesigen Literatur des Abendlandes hinterherrennen“. | |
Genau jenes Abendland machte Sarr über Nacht zum Star. Als der Autor von | |
seiner Auszeichnung mit dem Prix erfuhr, sagt er später in einem Interview | |
mit der New York Times, habe er nicht gewusst, wie er das interpretieren | |
soll. Auf Fotos zur Preisverleihung posiert Sarr im Michelin-gekrönten | |
Pariser Restaurant Drouant, halb verdeckt von der Jury. „Ist das ein Weg, | |
mich zum Schweigen zu bringen?“, sagt er in dem Interview. | |
Stellt man Sarr die Frage ein Jahr nach seiner Auszeichnung, zum Erscheinen | |
seines Buches in deutscher Übersetzung, antwortet er mit einem Lachen. | |
Nein, nein, der Preis sei etwas Großes für ihn gewesen. „Tief in mir drin | |
war ich froh.“ Und weiter: „Der Preis ist eine Ehre für einen | |
Schriftsteller aus dem Senegal.“ | |
## „Afrika“ als geografische Einordnung | |
Sarr sieht sich selbst als „afrikanischen Schriftsteller“, sagt er. Ein | |
Begriff, [1][von dem sich andere Autoren längst distanzierten]. Die | |
britische Schriftstellerin Taiye Selasi etwa bezeichnete ihn bei dem | |
Internationalen Literaturfestival in Berlin als Erfindung eines | |
vereinheitlichten „monolithischen Afrikas“. Sarr findet dagegen „Afrika“ | |
als geografische Einordnung „okay“. Solange er an keine Erwartungen | |
geknüpft sei: „Erwartung ist das Gegenteil von Schöpfung“, sagt er. | |
Indem Sarr Diskussionen über sonst so intensiv verhandelte Begriffe eher | |
klein hält, steht er aber auch irgendwie drüber. Sarr nennt [2][seine Rolle | |
im Kulturbetrieb] in der Figur von Elimane beim Namen; damit übernimmt er | |
die Kontrolle über seine eigene Geschichte und macht sich selbst zum | |
Schöpfer. Der Autor Sarr wird damit aber automatisch selbst zur | |
Inszenierung, entzieht sich jeder Beschreibung und wird – wie Elimane | |
selbst – zu einer „lebendigen Illusion“ der Leser. | |
17 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Isabel Barragán | |
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