# taz.de -- Übersetzungen postkolonialer Romane: Die andere Seite vom Stacheld… | |
> Postkoloniale Literatur kann die Sicht auf die Welt nachhaltig verändern. | |
> Ein Überblick über aktuelle Romane – von Dangarembga bis Varatharajah. | |
Bild: Erhielt 2021 den Literaturnobelpreis: Schriftsteller Abdulrazak Gurnah | |
Hamza schreckt schweißgebadet aus dem Schlaf hoch. Ein schlimmes Gefühl | |
steckt in seinen Knochen. „Ein Gefühl von Bedrohung, eine Todesangst. Als | |
käme eine große Gefahr näher, vor der es kein Entrinnen gibt. Da ist ein | |
furchtbarer Lärm, und Schreie und Blut.“ | |
Hamza ist eine der Figuren, mit denen Abdulrazak Gurnah [1][in seinem Roman | |
„Nachleben“] zeigt, wie tief der koloniale Terror in den Leidtragenden | |
sitzt. Er wurde als Jugendlicher von den deutschen Kolonialtruppen | |
zwangsrekrutiert, um als Söldner dem Kaiser zu dienen. Den vermissten | |
Bruder seiner späteren Frau wird das Schicksal nach Deutschland führen. | |
In jenem Ilias greift Gurnah das Schicksal von Bayume Mohamed Husen auf, | |
der nach dem Krieg in Deutschland mit Zarah Leander vor der Kamera stand | |
und 1944 im KZ Sachsenhausen ums Leben kam. In dem von Eva Bonné | |
übersetzten Roman zieht der auf Sansibar geborene Schriftsteller eine Linie | |
vom Kolonialismus zu den Verbrechen des „Dritten Reiches“. | |
So macht Gurnah der kollektiven Verdrängung des deutschen Kolonialismus ein | |
Ende. „Mir geht es nicht darum, die historischen Ereignisse | |
gleichzusetzen“, erklärte er gegenüber der Zeit, „aber natürlich waren d… | |
Deutschen mit ihrem kulturellen Überlegenheitsgefühl dezidiert rassistisch, | |
und sie übten die Unterwerfung anderer Völker ein, ich sehe durchaus | |
Verbindungslinien.“ | |
Gurnahs Literatur eröffnet die Möglichkeit, die deutsche Kolonialgeschichte | |
kritisch zu beleuchten. Nicht zuletzt seine Auszeichnung mit dem | |
Literaturnobelpreis 2021 hat Geschichten aus ehemals kolonialisierten | |
Regionen unter dem Schlagwort der postkolonialen Literatur in den Fokus der | |
Aufmerksamkeit gerückt. Dabei kommt es nicht allein darauf an, dass diese | |
Texte von Regionen erzählen, die einst von Imperialmächten unterworfen | |
waren, sondern dass in ihnen eine selbstbewusst-machtkritische Perspektive | |
mitschwingt. | |
Oftmals tauchen diese Texte in die Geschichte ein, um historische Fakten | |
aus der Perspektive der Unterworfenen darzustellen; neben Gurnahs Werk etwa | |
[2][David Diops hypnotische Erzählung „Nachts ist unser Blut schwarz“] oder | |
Maaza Mengistes umwerfender Roman „Der Schattenkönig“. Diop lässt einen | |
sogenannten Senegalschützen von seinen Erlebnissen im französischen Heer im | |
Ersten Weltkrieg berichten, Mengiste erzählt vom Widerstand äthiopischer | |
Frauen gegen Mussolinis faschistische Truppen im Äthiopien der 1930er | |
Jahre. Romane wie diese richten die Aufmerksamkeit auf die kolonialen | |
Verbrechen, sie erzählen von Leid, Befremden und (meist blutigem) | |
Aufbegehren. | |
Dem kommt auch der Roman „Der verbotene Bericht“ der | |
marokkanisch-amerikanischen Schriftstellerin Laila Lalami nach. Die von | |
Michaela Grabinger übersetzte Erzählung nimmt die Landnahme Floridas durch | |
spanische Kolonialisten in den Blick. Der Ich-Erzähler ist ein | |
marokkanischer Sklave, der seinen Besitzer nach Florida begleitet und dort | |
Zeuge von vielen Grausamkeiten wird. Es ist bezeichnend, dass der „erste | |
Afrikaner“ den amerikanischen Kontinent als Sklave betritt – fast hundert | |
Jahre, bevor erste Schiffe mit Sklaven den Kontinent erreichen. | |
## Imperiale Sprachpolitik | |
Lalamis mit dem American Book Award ausgezeichneter und für den | |
Pulitzerpreis nominierter Roman weist Parallelen zu „Das verlorene | |
Paradies“, einem frühen Werk von Abdulrazak Gurnah, auf. In beiden Titeln | |
erzählen zwei Leibeigene empathisch davon, wie sie Zeuge der gewaltsamen | |
Unterwerfung anderer wurden. „Ich wusste, wie es war, wenn man | |
ausgepeitscht wurde, wenn man sich wehrte, seine Unschuld beteuerte, nur um | |
noch heftiger gepeitscht zu werden und festzustellen, dass Hiebe erst mit | |
der vollständigen und bedingungslosen Unterwerfung endeten“, gibt etwa | |
Lalamis Ich-Erzähler Estebanico alias Mustafa zu Protokoll. | |
An anderer Stelle beobachtet er, dass die Spanier, nachdem sie sich zu | |
Herren über Florida ernannt hatten, begannen, „alles neu zu benennen, als | |
wären sie der allwissende Gott im Garten Eden“. Diese koloniale | |
Sprachpolitik, nach der die Welt mit imperialen Sprachmustern erklärt und | |
zugänglich gemacht wird, besteht bis heute fort, sagt Sinthujan | |
Varatharajah. | |
Der*die in Berlin lebende tamilische Autor*in erkundet in dem Essay „an | |
alle orte, die hinter uns liegen“ die Folgen kolonialer Gewalt. Die | |
spiegele sich auch im Literaturbetrieb. Die meisten Bücher seien aus | |
„imperialen Sprachen“ übersetzt, Übersetzungsförderung für Texte aus | |
lokalen Sprachen gebe es hingegen kaum. „Weil die Annahme besteht, dass die | |
Geschichten, die in diesen marginalisierten Sprachen erzählt werden, nicht | |
relevant sind“, meint Varatharajah. | |
## Wolof und Shona | |
Hätte der aktuelle Booker-Prize-Roman „The Seven Moons of Maali Almeida“ | |
von Shehan Karunatilaka auch so viel Aufmerksamkeit bekommen, wenn er in | |
Singhalesisch oder Tamil verfasst worden wäre? Würde Mohamed Mbougar Sarrs | |
Prix-Goncourt-Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ auch übersetzt, | |
wenn ihn der Senegalese in Wolof geschrieben hätte? Wäre Abdulrazak Gurnah | |
überhaupt als Autor anerkannt, schriebe er in seiner Muttersprache Swahili? | |
Oder Tsitsi Dangarembga, würde sie zu Shona greifen? | |
Zugegeben, alles hypothetische Fragen, aber keinesfalls bedeutungslos. | |
Diese Autor:innen bedienen sich imperialer Sprachen, um gegen die | |
imperiale Erzählung und die Spätfolgen des Kolonialismus anzuschreiben. | |
Wie geht man da am besten vor? Bei der von Ilija Trojanow und Anette Grube | |
übersetzten Tambudzai-Trilogie [3][von Friedenspreisträgerin Tsitsi | |
Dangarembga] liegt die Lösung im Konzept. Ihre Hauptfigur Tambudzai Sigauke | |
wächst Anfang der 1970er Jahre unter kolonialen Bedingungen in einem Dorf | |
auf, erlebt als Heranwachsende zu Beginn der Achtziger das nationale | |
Erwachen und kämpft als erwachsene Frau in den 1990ern mit Hunger, | |
Diskriminierung und Sexismus. | |
Entlang der Bewegung der Romane „Aufbrechen“, „Verleugnen“ und „Über… | |
sind die Schauplätze Dorf, Schule und Stadt, die Themen Armut, Rassismus | |
und Frauen sowie die Kampffelder Klasse, Hautfarbe und Gender angeordnet. | |
So führt die zunehmend existenzielle Erzählung von den psychischen | |
Deformationen des Kolonialismus bis zur physischen Bedrohung in der | |
postkolonialen Gegenwart. | |
## Konzept des „Writing back“ | |
Patricia Klobusizcky, Übersetzerin von Maaza Mengiste und weiterer | |
postkolonialer Werke, erläuterte kürzlich im Onlinemagazin des Deutschen | |
Übersetzerfonds einen anderen Weg. Sie schrieb, „die Erfahrung, dass | |
Sprache und Kultur des jeweiligen Imperiums als das Höherwertige, | |
Erstrebenswerte gelten, während die Sprachen und Kulturen der Kolonisierten | |
systematisch herabgewürdigt, wenn nicht gar fast ausgelöscht werden“, in | |
den dekolonisierten Sprachräumen sehr präsent sei. Autor:innen griffen | |
oft zum Konzept des „Writing back“, um „die unterdrückte, verfälschte, … | |
ausgelöschte Geschichte schreibend zurückzuerobern“. | |
So würde in postkolonialen Texten oft die Verwendung der imperialen | |
Sprachen reflektiert, indem „europäische Erzählweisen adaptiert, | |
verfremdet, weiterentwickelt“ und Wörter, Wendungen und Rhythmen aus den | |
jeweiligen afrikanischen Sprachen eingestreut oder syntaktisch aufgenommen | |
werden. | |
Wollen Literaturübersetzer:innen das spielerische Hin und Her | |
zwischen Zeiten, Räumen und Sprachen nicht in ein verr(i)egeltes Deutsch | |
übertragen, müssen sie kreative Lösungen finden. Die von Vera Elisabeth | |
Gerling, Birgit Neumann und Eva Ulrike Pirker herausgegebene Anthologie | |
„Timescapes – aller-retour“ mit Erzählungen aus afrikanischen Kontexten | |
veranschaulicht das eindrucksvoll. Im Nebeneinander von Original und | |
Übersetzung lassen sich in dieser absolut spannenden und | |
perspektivverändernden Sammlung die vielfältigen Strategien nachvollziehen, | |
um bei der Übersetzung in eine imperiale Sprache die inhärenten Gesetze des | |
Textes nicht zu verraten. | |
In den zwölf Kurzgeschichten reflektieren sechs Schriftsteller:innen | |
mit Wurzeln in Kamerun, dem Kongo, Nigeria, dem Senegal, Südafrika und | |
Uganda nicht nur die koloniale Vergangenheit, sondern auch den langen | |
Schatten des Kolonialismus in der postkolonialen Gegenwart und Zukunft. Die | |
versammelten Geschichten handeln von Geografie und Zeit, Vielfalt und | |
Offenheit, Identität und Gender und führen so die destruktive | |
Langzeitwirkung des Kolonialismus vor Augen. „Der Horizont meiner Träume | |
ist eine Betonwand, ein Stacheldrahtzaun, ein amtliches Blatt Papier, auf | |
dem ein Stempel prangt: Abgelehnt.“ | |
## Verfremdete Sprachmuster | |
Kolonialrassistische Zuschreibungen, Stereotype und Perspektiven haben | |
jahrhundertelang die Welt regiert und stecken tief in den Köpfen. Deshalb | |
wirken kolonial geprägte Erzählung(haltung)en auf die Nachfahren der | |
Kolonialist:innen wie Prousts Madeleines. Sie wecken Erinnerungen an | |
Bekanntes und sorgen so beständig dafür, dass die Welt nach kolonialen | |
Gesetzen gelesen und sortiert wird. | |
Postkoloniale Literatur kann mit neuen historischen und marginalisierten | |
Perspektiven sowie verfremdeten Sprachmustern diese Lesart brechen. Dank | |
ihr können wir verstehen, dass wir in vieler Hinsicht kulturelle | |
Analphabet:innen sind. Weil der Horizont unserer Vorstellungskraft auf | |
der anderen Seite der Betonwand und des Stacheldrahtzauns endet. | |
8 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Hummitzsch | |
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