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# taz.de -- Roman von Nobelpreisträger Gurnah: Inmitten vieler Geschichten
> Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah erscheint nun auf Deutsch. Der Roman
> „Das verlorene Paradies“ geht uns an – über den postkolonialen Kontext
> hinaus.
Bild: Die „Wilden“ sind immer die anderen: Händlerstraße in Sansibar ca. …
Zu Beginn des letzten Viertels dieses Romans versucht Yusuf, dessen
Jugendzeit wir lesend begleiten, sich einen Reim auf seine Erlebnisse zu
machen. „Das verlorene Paradies“ spielt in der Zeit vor dem Ersten
Weltkrieg an der ostafrikanischen Küste bei Sansibar. Yusuf hatte an einer
Handelskarawane ins Landesinnere teilgenommen. Ein Fehlschlag, alle
monatelange Mühsal und alle Opfer vergebens, viele der Beteiligten kommen
um.
Yusuf erzählt nun, „wie oft er sich auf der Reise wie ein Weichtier
vorgekommen war, das seine Schale abgestreift hatte und nun ungeschützt
ausgeliefert dalag, ein abscheuliches, bizarres Tier, das zwischen
Schottersteinen und Dornen ziellos seine Schleimspur zog“. Er fragt sich,
„was es wohl war, wonach die Leute sich so sehr sehnten, dass sie, nur um
Handel treiben zu können, ein derartiges Grauen niederkämpfen konnten“.
Er berichtet aber auch, Dinge gesehen zu haben, auf die er nicht
vorbereitet war: „Das Licht auf dem Berg ist grün […] Und die Luft ist wie
reingewaschen. Morgens, wenn die Sonne die Schneekuppe streift, überkommt
einen ein Gefühl von Ewigkeit“.
Was an dieser Szene auffällt, ist – neben dem schroffen Nebeneinander von
Grauen und Schönheit – ein poetischer Überschuss, der von [1][Abdulrazak
Gurnah] an dieser Stelle ganz bewusst gesetzt ist. Die Erlebnisse selbst,
die alltäglichen wie die schlimmen, schildert dieser Autor in diesem Roman
oft ganz lakonisch. Und daneben und teilweise quer dazu stehen dann die
Geschichten, die die Figuren erzählen, sich selbst oder anderen.
Eine der interessanten Leseerfahrungen dieses Romans ergibt sich aus diesem
Punkt: Zu ihren tatsächlichen Erlebnissen passen diese Erzählungen der
Figuren nämlich oft nicht recht. Dazwischen gibt es einen Spalt, der sich
auch zur Kluft auswachsen kann. Und keineswegs immer steht, wie bei Yusuf
nach seiner Rückkehr von der Karawanenreise, der redliche, teilweise aber
auch noch hilflose Versuch dahinter, überwältigende Erfahrungen in Worte zu
fassen. Vielmehr geht es auch um handfeste Interessen, darum, durch
Geschichten die Realität zu verfälschen, und auch darum, durch Geschichten
sich tröstend vom eigenen Schicksal abzulenken.
## Unsere Lügen und Illusionen
In seiner Nobel-Lecture, die er ein paar Tage, bevor ihm nun der Nobelpreis
überreicht wurde, gehalten hat, hat Abdulrazak Gurnah es als eins seiner
schriftstellerischen Anliegen beschrieben, auf die „Hässlichkeit dessen
hinzuweisen, was wir einander zufügen können, und den Lügen und
Wahnvorstellungen zu widerstehen, mit denen wir uns selbst getröstet
haben“. In „Das verlorene Paradies“ findet sich beides, das, was Menschen
einander zufügen können, sowie die Lügen und Illusionen.
Das macht diesen 1948 auf Sansibar geborenen und Mitte der sechziger Jahre
nach dortigen Unruhen nach Großbritannien emigrierten Autor über den
postkolonialen Zusammenhang, in dem er zweifellos erst einmal steht, hinaus
interessant. In „Das verlorene Paradies“ erzählen sich die Figuren
Geschichten nicht nur, um zu leben [2][(Joan Didion)] oder um zu verstehen,
sondern auch um sich selbst ins rechte Licht zu setzen und um andere
Figuren abzukanzeln.
Ein das ganze Buch über durchgehaltener tragischer Grundton ist dabei
dadurch gesetzt, dass Yusufs tatsächliche Geschichte inmitten all dieser
Geschichten gar nicht vorkommt. Im Alter von zwölf Jahren wird er von
seinen verschuldeten Eltern dem Kaufmann Aziz, den Yusuf mal Onkel Aziz,
mal Seyyid, Herr, nennt, als Geisel übergeben. Als er nach Jahren mit dem
Zug wieder durch seine Geburtsstadt fährt, versteckt er sich hinter den
Waggonfenstern, um von seinen Eltern ja nicht gesehen zu werden; ihm ist
unklar, was von ihm erwartet würde und wie er in dieser Situation reagieren
sollte.
Und den ganzen Roman hindurch weiß er nicht, ob er nun ein Angestellter,
ein Sklave, ein Diener oder vielleicht doch auch ein möglicher Nachfolger
des Kaufmanns ist. Der Roman ist durchzogen von solchen Abhängigkeiten und
unklaren Nahbeziehungen.
## Verschärfende Lage
Auch auf größerer sozialer Ebene hat die Kluft zwischen der Realität und
den Geschichten konkrete Auswirkungen. So schlägt die Karawane, die im
Zentrum des Buches steht, auch wegen der Kraft von Geschichten fehl, die
sich über die Realität legen. Chatu, der Sultan eines Stammes, zu dem die
Karawane vorstößt, weigert sich nicht nur zu handeln, sondern nimmt auch
mit Gewalt alle Waren an sich. Er sagt: „Ihr seid hierhergekommen, um uns
Übles zu tun. Wir haben unter anderen eurer Art gelitten, die vor euch hier
waren […] Sie sind über unsere Nachbarn hergefallen, haben sie gefangen
genommen und verschleppt.“
Dem Kaufmann Aziz gelingt es nicht, zu beglaubigen, dass er mit solchen
Geschichten vom historischen arabischen Sklavenhandel in der Region nichts
zu tun hat. Wobei die Illusion auf seiner Seite liegt. Seine Art, Handel zu
treiben, wird in der sich durch die Ankunft europäischer Mächte zusätzlich
verschärfenden Lage zunehmend anachronistisch.
Spätestens an dieser Stelle ist es interessant, einmal nachzuzeichnen, wer
in diesem Roman wen alles als „Wilde“ bezeichnet. Vom Kaufmann Aziz heißt
es in der Figurenperspektive ausdrücklich, er treibe Handel „mit den
Wilden“. Dass die Angehörigen dieser Stämme im Landesinneren nun wiederum
ihn als „Wilden“ und eben nicht als Händler verstehen, verdeutlicht den
Fehlschlag der Karawane.
Dass wiederum die Weißen, die in dem Buch an wenigen, aber markanten
Stellen vorkommen, alle Nichtweißen sowieso als „Wilde“ begreifen, muss gar
nicht erst formuliert werden; die Europäer – ein Kunstgriff für sich –
reden in diesem Buch gar nicht, sie herrschen schweigend. Dafür wird an
anderer Stelle extra betont, dass die ostafrikanischen Kaufleute ihrerseits
eingeschüchtert sind von der „Wildheit und Rücksichtslosigkeit“ der
Europäer. „Wilde“ sind in diesem Roman ([3][Dank an Marcel Inhoff] für den
Hinweis) tatsächlich immer die anderen. Und das wird vor allem durch
Geschichten transportiert.
## Multiethnisches Leben
„Das verlorene Paradies“ ist Abdulrazak Gurnahs vierter Roman. Auf Englisch
erschien er 1994, 1996 wurde er von der (inzwischen verstorbenen)
Übersetzerin Inge Leipold ins Deutsche übertragen – und nicht übermäßig
stark wahrgenommen, wie alle anderen Romane dieses Autors auch nicht. Doch
nachdem der überraschende Nobelpreis dieses Jahres auf Gurnah aufmerksam
machte, wird das nun nachgeholt.
Für die deutschen Rechte soll es großes Interesse gegeben haben, der
Penguin Verlag hat sie sich schließlich gesichert. Alle bisher zehn Romane
Gurnahs werden auf deutsch herauskommen, den Beginn dieser Edition macht
jetzt die neu durchgesehene und mit einem Glossar versehene Neuausgabe von
Inge Leipolds Übersetzung.
Der Roman führt hinein in das multikulturelle und auch multiethnische Leben
in diesem Bereich der ostafrikanischen Küste, bevor der auch hier
durchgesetzte europäische Kolonialismus – in den Jahren nach der
sogenannten Westafrika-Konferenz in Berlin 1884/85 wurde ganz Afrika
europäischer Herrschaft unterworfen – alle gesellschaftlichen Gegebenheiten
endgültig nach einem Weiß-Schwarz-Dualismus formatierte.
In dem Roman kursieren arabisch geprägte Erzählungen um Dschinns und
verzauberte Prinzessinnen, der Islam trifft auf Naturkulte, an der Küste
gibt es unter den Händlern indische und chinesische Einflüsse, während die
Menschen aus dem Landesinneren nur mit einem Tuch bedeckt durch die Straßen
gehen.
## Schönheit des Schreibens
Inmitten dieses unübersichtlichen Geflechts muss sich Yusuf zurechtfinden,
was für ihn – der Roman ist auch eine Coming-of-Age-Geschichte – etwa auf
sexuellem Gebiet alles andere als leicht ist. Auf der einen Seite wird er
immer wieder mit handfesten Übergriffigkeiten von Männern und Frauen
konfrontiert, die ihn unumwunden auffordern, sie einmal zu besuchen,
während ihre Männer Mittagsschlaf halten. Auf der anderen Seite gibt es
verschleierte Frauen, und alles wird traditionell geregelt.
In seiner Nobel-Lecture hat Abdulrazak Gurnah auch gesagt, dass für ihn die
Schönheit des Schreibens auch daraus resultiere, zu zeigen, wie „es anders
sein könnte“, und damit zu tun habe, hinter die Vereinfachungen und
Stereotypen zu kommen, die gern kolportiert werden. Auf der Handlungsebene
dieses Romans ist dieses fast utopische Potential nicht zu finden. Auch in
den Liebesbeziehungen nicht. Sie sind genauso von Hierarchien und
Vorurteilen durchdrungen wie die Familienbeziehungen und die von den
Figuren erzählten Geschichten.
Doch auf der Ebene der Beschreibungen blitzen in dem Roman immer wieder
eindringliche Momente auf, die den oft engen Erzählungen der
Figurenperspektive etwas zur Seite und womöglich ihnen auch
entgegenstellen. Eine Suche nach Genauigkeit und Dringlichkeit. Eine Arbeit
daran, das Potential des Schreibens ganz auszunutzen, die Fülle der
Wahrnehmungen zu erfassen, sich unerschrocken der ganzen Bandbreite
menschlicher Empfindungen zuzuwenden.
## Unerbittlichkeit der Deutschen
So erfährt man in diesem historischen Roman viel über den Kolonialismus und
die spezifische Situation, wie er sich in dem von ihm sorgfältig
beschriebenen Teil der Welt durchsetzte. Doch in vielen Beschreibungen von
Orten, Menschen, Szenen und auch in der Genauigkeit, in der die
verfälschenden Geschichten der Figuren dargestellt werden, geht der Roman
auch immer wieder darüber hinaus. Das Schreiben bekommt ein Eigenrecht.
In seiner Indirektheit sehr kunstvoll wiederum beschreibt Gurnah, wie die
weißen Kolonialherren in dieser Gegend vom Gerücht zur alles unterwerfenden
Realität werden. Europäer sieht Yusuf zum ersten Mal an einem Bahnsteig:
„Plötzlich entblößte der Mann die Zähne zu einem unwillkürlichen Knurren
und krümmte seine Finger auf seltsame Weise.“ Ein weißer Mann, der eine
Raubtiergeste nachmacht, eine beiläufige Szene, die aber doch hängen
bleibt.
Die deutsche protestantische Arbeitsmoral, die Unerbittlichkeit der
Deutschen bei Bestrafungen, darüber kursieren unter den Figuren erst
Geschichten, bis am Schluss des Buches ein deutscher Offizier mit einem
Trupp Askaris, also rekrutierten schwarzen Soldaten der deutschen
sogenannten Schutztruppe, auftaucht. Diesen deutschen Offizier beschreibt
Gurnah so: „Seine Gesichtshaut war straff und gespannt, wie nach einer
Verbrennung oder Krankheit. Sein Lächeln war eine starre Grimasse der
Entstellung. Seine Zähne lagen frei, als hätte das angespannte Fleisch
seines Gesichts zu faulen begonnen“. Hat man nicht gleich ein Kriegsgemälde
etwa von Otto Dix im Kopf?
## Dulden und Ohnmacht
Gegen Ende geht es in dem Roman darum, ob die Figuren nicht aus all diesen
Gegebenheiten ausbrechen können. Es gibt einen alten, längst freigelassenen
Sklaven, der dennoch nicht in die Freiheit geht und bei dem Garten bleibt,
den er seit Jahrzehnten für seine Herren pflegt. Yusuf empfindet seine
Geschichten als papierne „Weisheit des Duldens und der Ohnmacht“. Doch auch
Yusuf versucht nicht den Schritt in die Freiheit. Wohin sollte er auch
gehen? Er läuft den Askaris hinterher, um sich von ihnen rekrutieren zu
lassen. Ein Weichtier, das sich eine Schale sucht. Ihm bleibt nichts
anderes übrig.
In einer anderen Zeit und einer anderen weltpolitischen Situation hätte aus
Yusuf, das zeigt der poetische Überschuss seines Berichts von der Karawane,
ein Schriftsteller werden können. Doch in der Situation, in der er sich
befindet, eingeklemmt zwischen starren Hierarchien, verfälschenden
Geschichten und dem Kolonialismus, kann er sich nur seine Beherrscher
aussuchen.
13 Dec 2021
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## AUTOREN
Dirk Knipphals
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