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# taz.de -- Nobelpreis für Abdulrazak Gurnah: Von Sansibar bis Canterbury
> Gurnah widmet sich postkolonialer Identität. Dabei setzt er sich auch mit
> deutschem Kolonialismus auseinander. Das ist selten in Afrikas Literatur.
Bild: So wollten sie gesehen werden: Deutsche Soldaten im Osten Afrikas 1914
Sansibar – der Name ist Programm. Kaum ein Ort der Welt steht so klar für
die vergessene Globalisierung des präkolonialen Zeitalters wie diese Insel
vor Ostafrikas Küste im Indischen Ozean, wo jahrhundertelang Indien,
Arabien und Afrika aufeinandertrafen, getragen von den Monsunwinden. Europa
kam erst später dazu, ignorant und auftrumpfend, ohne Kenntnis von Menschen
und Geschichte, dafür mit Waffengewalt.
Die Briten, denen es um die Seeherrschaft ging, übernahmen die kleine, aber
strategisch bedeutsame Insel; die Deutschen, die möglichst viel Fläche auf
der Landkarte wollten, das große, zuvor von Sklavenhändlern terrorisierte
Festland. Den unvermeidlichen Aufstand gegen den deutschen kolonialen
Terror schlug das Reich mit 300.000 Toten nieder, bevor es selbst wenige
Jahre später im Ersten Weltkrieg verjagt wurde und das Empire das Gebiet
übernahm.
Das Festland Tanganjika wurde 1961 unabhängig, die Insel Sansibar 1963,
nach dem Sturz des jahrhundertealten Sultanats durch eine Revolution; 1964
verschmolzen die beiden zu Tan-San-ia (Tanzania, im Englischen).
Unabhängigkeitsführer Julius Nyerere proklamierte den Sozialismus und
gründete einen autoritären postkolonialen Staat. Freigeister flohen, wie
Abdulrazak Gurnah. [1][Im imperialen Mutterland Großbritannien wurde er ein
geachteter Dozent], Kenner der postkolonialen Literatur, bevor er
Jahrzehnte später selbst zum Schöpfer wurde – sein erster Roman datiert von
1987.
Diese ganze vielschichtige, facettenreiche Geschichte geht in Gurnahs Werk
auf. Ist er nun ein sansibarischer Schriftsteller, ein ostafrikanischer,
ein afrikanischer, einer vom Indischen Ozean, ein britischer? Alles auf
einmal, schreibt Samir Jeraj, Journalist asiatischer Abstammung aus der von
Sansibar nicht weit entfernten kenianischen Küstenstadt Mombasa. In einem
Essay anlässlich der Pensionierung Gurnahs als Dozent an der University of
Kent in Canterbury erinnert Jeraj daran, dass Gurnah für manche Studenten
dort der erste Schwarze Lehrer war: eine physisch wie intellektuell
imponierende Figur.
## Migration als Selbstermächtigung
Wie Menschen unter Umständen, die sie nicht selbst gestalten dürfen,
dennoch autonom denken, ein Leben und eine Familie aufbauen und was dann
daraus wird – diese große Fragestellung prägt die postkoloniale Literatur
Afrikas. Die Zwangsnatur des europäischen Kolonialismus in Afrika in ihrer
ganzen Unerbittlichkeit, ihrer Menschenverachtung, ihrer Gehirnwäsche und
ihrer alltäglichen Gewalt ist heutzutage kaum noch vorstellbar; wie
Menschen trotzdem überlebten und neue Identitäten erfanden, ist nach
heutigen Maßstäben ein Rätsel. Selbst in Afrika, dessen 1,2 Milliarden
Menschen zur Hälfte erst im 21. Jahrhundert geboren wurden, ist die
koloniale Ära eine Abstraktion geworden.
Lebendig gehalten wird die afrikanische Erinnerung samt all ihrer
Widersprüchlichkeiten heute vor allem durch die Werke der großen Autoren,
die das unmittelbar erlebten und aufschrieben, Ngugi wa Thiong’o in Kenia,
Chinua Achebe in Nigeria, um nur die bekanntesten zu nennen. Gurnahs Werk
ist eine Generation weiter entfernt und wirft einen kritischeren Blick auf
das postkoloniale Afrika; und er blickt weiter in die Vergangenheit zurück,
bis in den arabischen Sklavenhandel. Zugleich ist darin die Erfahrung von
Flucht und Migration eine Konstante, und dies entspricht weniger den
Verwerfungen der Kolonialzeit, sondern der Zeiten davor und danach.
## Tansania? War da was?
Koloniale und migrantische Erfahrung teilen ein Grundgefühl: Man gehört nie
wirklich dazu, man ist letztendlich immer in einem fremden Land zu Hause.
Im Kolonialismus hat das fremde Land die eigene Heimat übernommen, in der
Migration ist man selbst in die Fremde gegangen. Man muss in beiden Fällen
den zugeschriebenen Wurzeln untreu werden, um zu sich selbst zu finden.
Migrationserfahrung ist damit auch ein Weg, sich von der geistigen
Beschränkung auf die Kolonialerfahrung zu lösen. Auch deswegen ist sie für
Afrikas Selbstfindung so zentral.
In Deutschland aber weiß man von Afrikas Kolonialerfahrung so gut wie
nichts, und deswegen weiß man auch mit Afrikas Migranten nichts anzufangen.
Man hält Afrikaner für leidende Opfer, die um Hilfe betteln, und versteht
nicht, was sie hier wollen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen
kolonialen Vergangenheit in Afrika ist in Deutschland relativ neu und
marginal.
[2][Sie beschränkt sich politisch auf den Umgang mit dem Völkermord an den
Herero und Nama] in Namibia (Deutsch-Südwestafrika), intellektuell auf den
Streit über Kontinuitäten zwischen kolonialen und nationalsozialistischen
Verbrechen. Es geht dabei doch wieder um die deutsche Geschichte, nicht um
die afrikanische. Die kannten die Deutschen schon 1884 nicht, als sie sich
auf der Landkarte ihre Kolonialgebiete zurechtmalten. Und heute? Tansania?
War da was?
Auch für die Antwort auf diese Frage steht große, globale Literatur wie die
von Abdulrazak Gurnah, der als einer der ganz wenigen Autoren Afrikas auch
die deutsche Herrschaft thematisiert. „Macht vergisst die Vergangenheit und
baut eine neue“, schrieb er einst über Tansania. Der Satz ist universell.
7 Oct 2021
## LINKS
[1] /Oh-wie-traurig-ist-Sansibar/!312261/
[2] /Kolonialverbrechen-an-Herero-und-Nama/!5775510
## AUTOREN
Dominic Johnson
## TAGS
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