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# taz.de -- Anuk Arudpragasams Roman „Nach Norden“: Wonach die Figuren such…
> Ein Bürgerkrieg, der noch nach Generationen nachwirkt: Der Roman „Nach
> Norden“ des sri-lankischen Autors Anuk Arudpragasams entwickelt einen
> Sog.
Bild: Anuk Arudpragasam erzählt von den Verheerungen des Krieges, im Bild Sold…
Auf den letzten Seiten liefert er noch einmal einen dieser suchenden
philosophischen Exkurse, der wie alle davor gleichzeitig sehr schwierig und
sehr leichtfüßig daherkommt. Es geht um ein Thema, das schon öfter dran war
in Anuk Arudpragasams neuem Roman „Nach Norden“, aber durch sein
exponiertes Timing lässt es noch einmal zurückblättern.
Krishan, der Erzähler, ist irgendwo im ländlichen Sri Lanka auf der
Beerdigung der Haushaltshilfe seiner Großmutter gelandet. Sie hat sich das
Leben genommen, weil sie nicht mehr damit klarkam, dass ihre beiden Söhne
im Bürgerkrieg gestorben waren. Anstatt aber noch einmal vom Kampf der
tamilischen Separatisten um Unabhängigkeit vom singhalesisch dominierten
Staat 1984 bis 2009 zu berichten – oder auch von den Wunden, die dieses
Land bis heute prägen –, schlägt der 1988 geborene Autor Anuk Arudpragasam
einen interessanteren Weg ein.
Krishan geht vom Scheiterhaufen weg, in dem die Leiche Ranis verbrannt
wird, und in dem Maße, wie das Feuer leiser wird, macht er zunehmend seinen
Frieden mit ihrem Tod. Es folgt eine kurze Reflexion über den menschlichen
Blick, „den wir jederzeit in die Ferne richten können“, und über das Geh�…
das dagegen „mit der physischen Gegenwart verbunden“ sei.
Und schließlich gelangt Arudpragasam zum Kernthema seines Buches, zum
Unterschied zwischen Nähe und Distanz, die aufgelöst wird in den
Unterschied zwischen Verlangen und Sehnsucht.
## Aus Schuldgefühl zur NGO
In behüteten Verhältnissen in Sri Lankas Hauptstadt Colombo ist Krishan
aufgewachsen, er hat, wie er glaubt, einen unberührten Blick auf den Krieg
im Norden, der lang vor seiner Zeit begonnen hat, lebt lange Jahre in
Delhi. Doch dann werden die Schuldgefühle schwerer, immer zwanghafter seine
Recherchen zum Krieg. Irgendwann beschließt er, im Kriegsgebiet bei einer
NGO zu arbeiten.
Sehr beiläufig erwähnt er irgendwann, dass sein Vater bei einem Anschlag
gestorben ist – und nur ganz sacht und mit Abstand zu Krishan, der schwer
zu gewinnen ist, schält sich heraus, dass er keinen Zugang zu diesem
entscheidenden Kapitel seines Lebens zu finden scheint.
Es hängt eine Art Vorhang zwischen Krishans Verlust und seinem Leben,
trocken gesprochen würde man sagen, er hat genauso eine posttraumatische
Belastungsstörung wie die Haushälterin, die am Ende bestattet wird, nur
dass ihm dies irgendwie nicht schwer genug zu wiegen scheint oder, und das
bleibt auf erhellende Weise unklar, dass es noch nicht zu ihm
durchgedrungen ist. Er kann nur diffuse Sehnsucht danach haben, sich zu
engagieren und zu verstehen. Oder ist da noch eine Sehnsucht nach etwas
anderem?
## Unfassbar anstrengendes Buch
Anuk Arudpragasam hat ein unfassbar anstrengendes Buch geschrieben, einen
über 300 Seiten langen inneren Monolog ohne Dialoge, ohne großartigen
Plot und voller seitenlanger Sätze im superhohen Ton, die manchmal fast zu
nerven beginnen – kleine Gesten des Respekts für die allseits bekannten
avantgardistischen Experimente einer Virginia Woolf oder eines James Joyce.
Natürlich ist dieses Buch außerdem hochpolitisch: Es handelt von
Verheerungen, wie wir sie gerade wieder massiv vor die Haustür gespült
bekommen – es führt auch noch den größten Verdränger*innen der eigenen
Geschichte klar vor Augen, dass sich ein Krieg über Generationen in
Gesellschaften brennt.
Und trotzdem ist dieses Buch auch weit davon entfernt, nur schwere Arbeit
zu sein, es entwickelt sogar einen ganz seltsamen Sog – vielleicht kann man
nicht anders als sorgfältig mit Sprache sein, wenn man wie dieser Autor
auf Tamil und auf Englisch schreibt.
Da sind zum einen wunderschöne Nacherzählungen tamilischer Legenden und
alter Sanskritlyrik; sie bringen eine eigene Ebene in diesen Roman. Zum
anderen und vor allem ist da aber auch ein sanfter, junger Mann, der sehr
darauf bedacht ist, sich nicht so wichtig zu nehmen, der sich sehr darüber
wundert, wenn er mit toxischer Männlichkeit in Berührung kommt, der sich in
Delhi in die queere Aktivistin Anjum verliebt.
## Selbstmordattentäterinnen der Tamil Tigers
Anjum lässt Krishan nur an sich heran, weil sie genau weiß, dass sie ihn
bald wieder für ihre politischen Pläne wird fallen lassen. Krishans
Faszination für ihren knallharten Narzissmus geht so weit, dass er eine
Obsession für zwei offensichtlich lesbische Selbstmordattentäterinnen der
Tamil Tigers entwickelt, die er immer wieder in einem Dokumentarfilm
studiert. Und wieder ist ungewiss, ob Krishan das alles nicht spürt oder ob
er es nicht spüren möchte.
In einem Interview mit dem britischen Literatur- und Kunstmagazin White
Review hat Anuk Arudpragasam seiner Bewunderung für einen anderen
Lieblingsautor Ausdruck verliehen, der viel zitiert, aber noch immer viel
zu wenig gelesen wird: den deutschen Schriftsteller W. G. Sebald, dem
neuerdings kulturelle Aneignung jüdischen Leids vorgeworfen wird.
Das wird Anuk Arudpragasam wohl wissen, wenn er sagt, dass die stets
wandernden Figuren von Sebald nur „langsam sehen, dass das, wonach sie
suchen, ohne es genau zu wissen, eine Welt ist, die vor dem Holocaust
existierte, eine Gemeinschaft und eine Lebenswelt, die ihnen ein Gefühl der
Zugehörigkeit oder Erfüllung gegeben haben könnte“.
Die Sehnsucht, die Krishan umtreibt, ist nicht nur die nach Engagement und
Verständnis, sondern nach einem Leben vor der Zerstörung – auch wenn er nur
ahnen kann, wie kaputt er eigentlich ist. „Nach Norden“ ist nicht nur ein
Roman über den Krieg und seine Folgen, sondern eine Ebene darunter auch
über die Frage, wie betroffen man sein muss, wenn man über ihn schreiben
möchte.
10 Dec 2022
## AUTOREN
Susanne Messmer
## TAGS
Roman
Literatur
Bürgerkrieg
Sri Lanka
Generationen
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Literatur
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