# taz.de -- Roman des Booker-Prize-Trägers: Die Bilder der toten Fotografen | |
> Shehan Karunatilakas epischer Roman „Die sieben Monde des Maali Almeida“ | |
> erzählt vom Bürgerkrieg in Sri Lanka. Er wurde mit dem Booker Prize | |
> ausgezeichnet. | |
Bild: Eier-Handgranaten der Tamil Tigers, 1987 | |
Mit Sri Lanka verbindet man zwei sehr unterschiedliche Dinge. Zum einen das | |
tropische Paradies, die weißen Strände, den blauen Himmel. Und zum anderen | |
den Bürgerkrieg, das Gemetzel von 1983 bis 2009, den [1][Krieg zwischen den | |
Tamil Tigers], die mit militärischer Gewalt die Unabhängigkeit der | |
tamilischen Minderheit im Norden der Insel von der singhalesischen Mehrheit | |
im Süden erkämpfen wollten. | |
Die Tigers mutierten mehr und mehr zur Terrorbewegung und verübten allein | |
240 Selbstmordattentate mit zahllosen unschuldigen Opfern. Und die von den | |
Singhalesen dominierte Regierung Sri Lankas kämpfte ihrerseits nicht nur | |
gegen die Tigers, sondern versuchte auch mit heimlicher Unterstützung von | |
Todesschwadronen mordend ihre Interessen durchzusetzen. | |
Als die Lage aus dem Ruder zu laufen drohte, holte sie indische | |
„Friedenstruppen“ ins Land, die dann ebenfalls wenig zimperlich Unschuldige | |
töteten. Der blutige Teil der Geschichte dieser tropischen Trauminsel | |
forderte nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 40.000 und 70.000 Tote | |
allein unter der Zivilbevölkerung. | |
## Im Zwischenreich | |
Auch Maali Almeida, der Held von [2][Shehan Karunatilakas] mit dem Booker | |
Prize 2022 ausgezeichneten Roman „Die sieben Monde des Maali Almeida“, ist | |
tot. Als Geist findet er sich in einer Art Zwischenreich wieder und | |
versucht, in einem heruntergekommenen Verwaltungsgebäude herauszufinden, | |
wie es jetzt für ihn weitergeht. | |
Hinter einem Tresen steht dort Dr. Ranee Sridharan, Rechtsanwältin und | |
Frauenrechtlerin, eine der ersten Opfer des Bürgerkriegs, die ihm erklärt, | |
dass er sieben Monde, also sieben Tage Zeit hat, um „ins Licht“ zu kommen. | |
Sie sagt, dass die, die nicht ins Licht kommen, danach zu Dämonen werden. | |
Und da taucht auch schon eine zwielichtige Gestalt in einem schwarzen | |
Umhang auf, die Dr. Sridharan zu vertreiben versucht. Es ist Sena | |
Pathirana, ein „Campuskommunist“, der Almeida auf seine Seite zu ziehen | |
versucht: „Jeder Seele werden sieben Monde zugestanden, um im Dazwischen zu | |
wandern. Sich auf vergangene Leben zu besinnen. Um dann zu vergessen. Ihr | |
sollt vergessen, denn wenn ihr vergesst, ändert sich nichts.“ | |
Sena, wie er immer nur genannt wird, will dagegen „etwas Sinnvolles“ tun. | |
Sena will als Dämon auf die Lebenden Einfluss nehmen, um sich für das | |
Unrecht zu rächen. „Die Welt korrigiert ihren Kurs nicht von selbst“, sagt | |
er. Und: „Die Rache ist euer Recht.“ | |
## Wer ihn umgebracht hat | |
Es ist frappierend, wie schnell man Karunatilakas Geisterwelt akzeptiert | |
und sich mit dem vom Wind hin und her gewehten Geist Maali Almeidas in die | |
eine oder andere Ecke von Colombo, der Hauptstadt Sri Lankas, treiben | |
lässt. | |
Andererseits ist der allwissende Erzähler eines „realistischen“ Romans ja | |
auch nichts anderes als ein Geist, der auf magische Weise zu jeder Zeit an | |
jedem Ort sein kann. Wobei es für Maali Almeida in Karunatilakas | |
Zwischenreich nur möglich ist, an Orte zu gelangen, an denen sich sein | |
Körper im Leben befunden hat; außerdem an solche, wo sein Name | |
ausgesprochen wird und er noch nicht vergessen ist. | |
An die letzten Stunden seines Lebens kann sich Maali Almeida nicht | |
erinnern. Er will deshalb herausfinden, wer ihn umgebracht hat. Dass er | |
keines natürlichen Tods gestorben ist, steht für ihn fest. Es gibt einige, | |
die ein Interesse an seinem Tod hätten. Seit 1983, seit dem Beginn des | |
Bürgerkriegs, ist er immer wieder ins Kriegsgebiet gereist. Dort hat er für | |
alle Seiten Fotos gemacht und später seine Kontakte zu den Kriegsherren | |
dazu genutzt, um Interviewtermine für die internationale Presse zu | |
vermitteln. | |
## Im Casino in Colombo | |
Viele seiner Kunden trifft er im Casino in Colombo, wo Almeida regelmäßig | |
sein Honorar verspielt. Manche „Journalisten“ entpuppen sich später als | |
Waffenhändler, denen Interviewtermine nur dazu gedient hatten, neue | |
Geschäfte anzubahnen. Außerdem gibt es diskreditierende Fotos aus der | |
Anfangszeit des Kriegs, die nie veröffentlicht wurden. | |
Auf einem ist Justizminister Cyril Wijeratne am Rand eines Massakers in | |
einem tamilischen Dorf zu sehen. Hat Wijeratne ihn umbringen lassen? Dann | |
wäre es wichtig, seine Fotos vor dem Zugriff der Polizei und des | |
Geheimdienstes zu retten. Aber wie soll das aus dem Geisterreich heraus | |
funktionieren? | |
Es ist weniger dieser Plot, der die Lektüre von „Die sieben Monde von Maali | |
Almeida“ vorantreibt. Es sind die intelligenten Dialoge, die den Roman | |
prägen und mit ihrer Interpretation der Wirklichkeit, ihrer Tragikomik und | |
ihrem Sarkasmus das Interesse des Lesers aufrechterhalten. Vor dem | |
Hintergrund der jüngsten Geschichte Sri Lankas thematisiert Karunatilaka | |
die großen philosophischen und politischen Fragen. | |
Beispielsweise die nach der Herkunft. Maali Almeida wurde in der | |
„Geburtslotterie“, wie seine große Liebe DD es nennt, nicht in eine rein | |
tamilische Familie hineingeboren. Sein Vater ist Singhalese und von ihm hat | |
er den singhalesischen Nachnamen; in der patriarchalen Gesellschaft Sri | |
Lankas macht es da wenig aus, dass seine Mutter Tamilin ist. Und zugleich | |
ist er als Schwuler in einer homophoben Gesellschaft gelandet. Weshalb er | |
zur Tarnung offiziell mit seiner besten Freundin Jaki zusammenzieht, die | |
mit DD zusammenwohnt, ihrem Cousin. | |
## Ein blutiger Bürgerkrieg | |
Shehan Karunatilaka erzählt in seinem intelligenten und eindrucksvollen | |
Roman von einem blutigen Bürgerkrieg, der im Westen in Vergessenheit zu | |
geraten droht. Aber auch in Sri Lanka selbst interessieren Maali Almeidas | |
Kriegsfotos schnell nicht mehr und tragen schon gar nicht zum Ende des | |
Tötens bei. Auch die Gutsituierten in Colombo verdrängen den Krieg und | |
lassen es sich – ein paar Stunden Busfahrt vom Gemetzel entfernt – auf | |
Partys, in den Cafés und am Strand gut gehen. | |
Almeida und mit ihm Karunatilaka weist dabei auch auf die koloniale | |
Vergangenheit hin, die Briten, die die Insel ausbeuteten, die bei der | |
Grenzziehung die alten Grenzen zwischen dem tamilischen und dem | |
singhalesischen Königreichen ignorierten und damit eine der Grundlagen für | |
den Bürgerkrieg legten. | |
Er sieht die Waffenhändler aus dem Westen, die zynisch ihre Geschäfte mit | |
allen Seiten machten. Aber er gibt damit die Verantwortung für die | |
Katastrophen in seinem Land nicht einfach ab, sondern beschreibt die | |
heutige homophobe, frauenfeindliche und rassistische Gesellschaft Sri | |
Lankas. | |
Immer wieder taucht bei Maali Almeidas Versuch, seine Fotos zu retten und | |
seinen Mörder zu finden, der Dämon Mahakali auf. Er ist „das schwarze Herz | |
des Universums. War nicht immer so böse“, wie es am Ende im | |
Personenregister heißt. | |
An einer Stelle des Romans wählt Karunatilaka ein ambivalentes Bild, eines, | |
in dem sich vielleicht gleichzeitig der Mut ausdrückt, angesichts des Bösen | |
die Wahrheit zu sagen. Während Mahakali ihn umarmt, sagt Maali Almeida: | |
„Die Briten haben uns eine rohe Perle hinterlassen und wir schaufeln sie | |
seit vierzig Jahren mit Dreck zu. […] Hier kommt die stinkende Wahrheit, | |
atme tief ein. Wir haben es alles selbst in die Scheiße geritten.“ | |
12 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Liberation_Tigers_of_Tamil_Eelam | |
[2] /Uebersetzungen-postkolonialer-Romane/!5892886 | |
## AUTOREN | |
Fokke Joel | |
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