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# taz.de -- Neuer Roman von Joanna Bator: Schicksale von vier Generationen
> Joanna Bator hat einen großen Familienroman geschrieben. Ihren Figuren
> haucht die Erzählerin in all dem historischen Schrecken Menschlichkeit
> ein.
Bild: Träume vom aufregenden Leben: Mutter mit Tochter im heute polnischen Wa�…
Auf der Landkarte des links-liberalen Nachkriegsdeutschland war Schlesien
ein weißer Fleck, auf dem „Polen“ stand. Die pitoresk verklärte
Vergangenheit der ehemals deutschen Ostgebiete, die die Heimatvertriebenen
verbreiteten, galten mit den dazugehörigen Rückübertragungsansprüchen als
obsolet.
Es brauchte erst polnische, ins Deutsche übersetzte Autorinnen wie die in
Schlesien geborenen Olga Tokarczuk und wie Joanna Bator, um diese weißen
Flecken wieder mit zeitgemäßem Leben zu versehen.
Nach dem Nobelpreis für Literatur [1][für Olga Tokarczuk] ist Joanna Bator
ein bisschen aus dem Blickfeld geraten. Dabei hatte die im
niederschlesischen Wałbrzych, dem ehemaligen Waldenburg, geborene und
aufgewachsene Autorin 2011 mit „Sandberg“ in Deutschland Furore gemacht.
Der Roman handelt von der prekären Kindheit und Jugend eines Mädchens in
einer Plattenbausiedlung am Rand einer schlesischen Kleinstadt.
Auch ihr neuer Roman, „Bitternis“, spielt im niederschlesischen
Bergbaugebiet. In einer Art familiärer Tiefenbohrung erzählt Bator hier
kapitelweise von vier Frauen aus vier Generationen einer Familie. Im ersten
und im letzten Kapitel rahmt eine Ich-Erzählerin die Familiengeschichte
ein.
Sie erklärt, mit Kalina, der jüngsten der vier Frauen, identisch zu sein.
Deutlich macht Bator das auch dadurch, dass sie in den Kapiteln über Kalina
immer wieder ein „ich“ statt das „sie“ verwendet.
## Sehnsucht nach der großen Welt
Berta Koch ist die deutsche Urgroßmutter von Kalina. Sie wird um 1920 herum
geboren und wächst allein bei ihrem Vater auf, nachdem ihre Mutter im
Kindbett gestorben ist. Die Familie betreibt eine Fleischerei, dessen
Wurstprodukte besonders in einem nahe gelegenen Lungensanatorium auf große
Beliebtheit stoßen. Berta ist dabei nicht nur voll in die Arbeit des Vaters
eingespannt, sondern vollständig darin gefangen.
Ihr Leben als Frau eines Fleischers, den der Vater bereits ausgesucht hat,
ist ihr dabei vorherbestimmt. Dabei sehnt sie sich, wie Kalina aus ihrem
Tagebuch erfährt, nach der großen Welt, nach Freiheit und Liebe und träumt
davon, mit einem jungen fahrenden Händler, von dem sie schwanger wird, nach
Prag durchzubrennen.
Es ist, als befände man sich in Michael Hanekes Film [2][„Das weiße Band“…
Auch in „Bitternis“, wie bei Haneke, führt die väterliche Strenge,
verbunden mit den gesellschaftlichen Zwängen, zu Gewalt und in die
Katastrophe: Berta ermordet ihren Vater. Eine Tat, die es nicht nur bis in
die New York Times brachte, sondern die Familiengeschichte, wie Kalina
herausfindet, bis in die Gegenwart prägt.
1939 stirbt Berta Koch, wie schon ihre Mutter, bei der Geburt eines
Mädchens im Gefängniskrankenhaus. Es wird auf den Namen Barbara getauft und
muss die ersten Jahre im Waisenhaus zubringen. Kurz nach Kriegsende hat die
Großmutter von Kalina dann Glück, und das Ehepaar Serce adoptiert sie.
## Leben in den Bloodlands
Doch die neuen Eltern kommen auch aus den „Bloodlands“, wie [3][Timothy
Snyder] das heutige Gebiet der Ukraine, Weißrusslands und Polens wegen der
ständigen Vertreibungen und den Millionen von Toten im 20. Jahrhundert
nennt. Auch die Serces haben während des Zweiten Weltkriegs schreckliche
Erfahrungen gemacht, wurden nach dessen Ende aus der Ukraine in den ehemals
von Deutschen bewohnten Ort nach Schlesien deportiert.
Man könnte meinen, all das Elend und Leid würde den Leser schnell
frustrieren und „Bitternis“ zur Seite legen lassen. Aber Bator gelingt es,
ihren mit 800 Seiten opulenten Roman geschickt so aufzubauen, dass das
Interesse an der Geschichte nie erlahmt. Vor allem aber haucht sie ihren
Figuren nach all dem Schrecken und der Gewalt immer wieder Menschlichkeit
ein.
Während die New York Times Berta Koch als „Monster Woman“ bezeichnet,
erfährt Kalina aus den Tagebüchern ihrer Urgroßmutter, wie sie geliebt und
gelitten hat. Und wenn ihre Tochter Barbara zwar ein Leben lang ihren
Ängsten ausgeliefert war und ihre eigene Tochter Violetta nie lieben
konnte, so wird sie für ihre Enkelin zur wichtigsten Bezugsperson, „die
mich liebte und mit der Beharrlichkeit und Kraft eines Rhinozeros
beschützte“.
Selbst die immer wieder von Bator erzählten Versuche von Kalinas Mutter
Violetta, ihre absurden Träume von einem aufregenden Leben, von dem sie
glaubt, dass sie es nur mit Hilfe von immer neuen Männern verwirklichen
kann, langweilen nicht. Violetta, die nie in die Rolle der Mutter findet,
die jahrelang nicht anwesend ist und ihre Tochter bei Barbara zurücklässt.
## Von Traumata emanzipieren
Kalina, die in vielem wohl nicht nur mit der Ich-Erzählerin, sondern in
Einzelheiten auch mit der Autorin identisch ist, wird die Erste sein, die
ein selbstbestimmtes Leben führen und sich ein Stück weit von den Traumata
ihrer Familie emanzipieren kann, auch wenn sie sie nie ganz los wird. Was
ihr dabei hilft, ist die Recherche und das Erzählen ihrer
Familiengeschichte, von der sie am Anfang so gut wie nichts weiß.
Dabei kommt es ihr nicht auf historische Details an; die beschriebene
Gewalt und Unterdrückung könnte so erzählt auch woanders stattgefunden
haben. „Bitternis“ ist deshalb auch kein schlesischer Heimatroman, sondern
ein Roman aus der Provinz, dessen Welthaltigkeit unter anderem dadurch
entsteht, dass er in der Lage ist, auch für Leser außerhalb Polens den
weißen Fleck, der Schlesien für viele auf der Landkarte immer noch ist,
wieder mit Leben zu versehen.
4 Dec 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Fokke Joel
## TAGS
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