| # taz.de -- Regisseur Haneke über "Das weiße Band": "Liebe ist zu wenig" | |
| > Ein Gespräch mit Michael Haneke über repressive Erziehung und seinen Film | |
| > "Das weiße Band". | |
| Bild: Strenge Rituale im Haus des Pfarrers in "Das weiße Band" | |
| taz: Herr Haneke, in Ihrem neuen Film "Das weiße Band" zeigen Sie zwei | |
| Welten, die der Kinder und die der Erwachsenen. Beide leben in einem Dorf | |
| auf engstem Raum zusammen, scheinen aber vollkommen voneinander getrennt zu | |
| sein. Warum? | |
| Michael Haneke: So ist ja die Kindheit im Allgemeinen. Es ist ganz selten, | |
| dass es eine wirkliche Verbindung miteinander gibt. Natürlich haben Eltern | |
| und Kinder eine Beziehung, aber sobald Kinder unter sich sind, ist das eine | |
| Welt, in die Erwachsene keinen Zugang haben. | |
| Mir ist beim Ansehen auch "Kinder des Zorns" in den Sinn gekommen. | |
| Den kenne ich nicht. Von wann ist der? | |
| Das ist die Verfilmung eines Romans von Stephen King aus dem Jahr 1984. Der | |
| Film spielt ebenfalls in einer ländlichen Umgebung und innerhalb einer | |
| streng religiösen Gemeinschaft. | |
| "Kinder des Zorns" klingt gut, das ist ein schöner Titel. | |
| Schon in früheren Filmen, etwa in "Bennys Video" oder in "Funny Games", | |
| haben Sie den Verlust der Unschuld der Kindheit beschrieben. | |
| Seit Freud ist ja allgemein bekannt, dass die Unschuld der Kinder eine | |
| relative Sache ist. Genauso wie in jedem Menschen steckt in jedem Kind eine | |
| große Portion Grausamkeit. Man muss sich ja nur ansehen, wie Kinder in | |
| einem Kindergarten miteinander umgehen. Die Unschuld der Kinder ist eine | |
| Projektion der Erwachsenen. In jedem Menschen ist alles angelegt, es hängt | |
| von den Umständen ab, was sich daraus entwickeln kann. | |
| Etwa der Faschismus? | |
| Das Beispiel des deutschen Faschismus ist natürlich das Naheliegendste, | |
| aber in dem Film geht es letztendlich darum, zu zeigen, unter welchen | |
| Bedingungen der Mensch bereit wird, Ideologien zu folgen. Und das ist er | |
| immer dort, wo es Unbehagen, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung gibt. Da | |
| greift jeder den erstbesten Strohhalm, der ihm gereicht wird. Meistens sind | |
| das dann irgendwelche Ideen, die an sich gar nicht unschön sein müssen. Der | |
| Kommunismus etwa ist eine wunderschöne Idee. Aber sobald so eine Idee zur | |
| Ideologie wird, wird sie lebensgefährlich. So ist es mit allen Ideen. Man | |
| könnte den Film auch in ein arabisches Land von heute verlegen und zeigen, | |
| wie es zum islamistischen Terrorismus kommt. Der Film wäre dann ein völlig | |
| anderer, aber das Grundmodell bliebe gleich. | |
| Und die Erziehung ist der Schlüssel? | |
| Erziehung ist ein Menschheitsproblem, von Anfang an bis heute. Die | |
| Erziehungsmethoden, die der Film zeigt, die uns heute grausam und brutal | |
| vorkommen, waren damals die offiziell anerkannten. Der Pfarrer ist kein | |
| böser Mensch, er ist zutiefst überzeugt, dass er das Richtige tut. Liest | |
| man die Erziehungsliteratur aus dieser Zeit, kann man seine blauen Wunder | |
| erleben. | |
| Also wäre das Problem heute überwunden, wenn wir auf nichtdisziplinäre | |
| Methoden setzen? | |
| Nein. Ich stamme aus der 68er-Generation und viele meiner Bekannten haben | |
| ihren Nachwuchs antiautoritär erzogen. Die Kinder hatten, als sie ins | |
| Erwachsenenleben eintraten, ziemliche Schwierigkeiten. Wenn ich mir heute | |
| ansehe, dass die Lehrer Angst vor den Schülern haben, kann das nicht | |
| richtig sein. Ich habe kein Rezept, wie man es besser machen kann. Liebe | |
| ist immer gut, aber Liebe allein ist zu wenig. Auch der Pfarrer liebt seine | |
| Kinder. | |
| In "Das weiße Band" ist von Liebe wenig die Rede, beinahe alle Beziehungen | |
| sind von latenter oder offener Gewalt bestimmt. | |
| Man hängt mir als Regisseur immer das Etikett an, ich hätte eine Obsession | |
| mit Gewalt, ich würde ständig Gewalt zeigen. Was sicher nicht der Fall ist. | |
| In all meinen Filmen zusammen werden sie weniger sichtbare Gewaltakte | |
| finden als in einem beliebigen Fernsehkrimi. Erstens, weil ich es für | |
| obszön halte, so etwas zu zeigen. Zweitens, und das gilt überhaupt, werden | |
| alle Dinge, die in einem Film von Bedeutung sind, nach Möglichkeit ins Off | |
| gesetzt. Weil sie dann mit der Fantasie des Zuschauers spielen. Die Szene, | |
| in der die beiden Kinder geschlagen werden, ist dramaturgisch wesentlich | |
| effizienter dadurch, dass man nichts sieht, sondern nur die Schreie hört. | |
| Wenn die Kamera in das Zimmer hineingehen würde, wo der Junge den Hintern | |
| versohlt bekommt, wüsste ohnehin jeder, dass der Darsteller zuvor gut | |
| gepolstert wurde. | |
| Die Kamera bleibt oft zurückhaltend oder distanziert. Manche Räume betritt | |
| sie nicht, manche Perspektiven versteckt sie vor uns, wie etwa den Körper | |
| der toten Frau des Bauern oder den Selbstmord des Bauern selbst. | |
| Ich versuche immer, die Imagination zu aktivieren. Der Unterschied zwischen | |
| Kino und Literatur besteht ja vor allem darin, dass die Literatur die | |
| Bilder im Kopf des Lesers entstehen lässt. Während das Kino dem Zuschauer | |
| diese Bilder regelrecht stiehlt, weil es ihm vorgefertigte vorsetzt. Wenn | |
| der Film sich davon emanzipieren will, muss er dem Zuschauer mehr Freiheit | |
| geben - was die Aufgabe von jeder Kunst ist. Das tut Musik etwa in hohem | |
| Maß. Wie gebe ich dem Zuschauer die Möglichkeit, seine eigene Fantasie | |
| einzubringen? Entweder durch das Off, das heißt ich arbeite mit dem, was | |
| außerhalb des Bildrahmens stattfindet. Oder durch die dramaturgische | |
| Struktur, indem man die Fragen offen hält, so dass der Zuschauer sich | |
| selbst einbringen muss, um Antworten auf diese Fragen zu bekommen. | |
| Die offenen Fragen häufen sich. Der Film ist nicht nur ein historisches | |
| Drama, sondern enthält auch klassische Züge des Whodunnit. | |
| Das Element der Spannung benutze ich in allen Filmen. Die Mittel und Tricks | |
| des Genres sind einfach der Klebstoff, an dem der Zuschauer kleben soll. | |
| Sonst werden die Filme didaktisch, und didaktische Filme sind furchtbar. | |
| Der Film wurde auf Farbmaterial gedreht, aber auf Schwarzweiß umkopiert. | |
| Warum? | |
| Das hat zwei Gründe: Erstens ist die Zeit um 1900 die historische Epoche, | |
| die im allgemeinen Bewusstsein mit Schwarzweiß konnotiert ist. Zum anderen | |
| bringt Schwarzweiß eine Distanzierung, eine Verfremdung mit sich. | |
| Schwarzweiß hat in diesem Fall die gleiche Funktion wie der Erzähler, der | |
| ja damit anhebt, dass er sagt: Ich weiß gar nicht, ob alles, was ich Ihnen | |
| erzählen werde, der Wahrheit entspricht. Sofort wird dieses ganze Artefakt, | |
| das wir zu sehen bekommen, auch als solches deklariert. | |
| Die Bewohner des Dorfes leben in einem Dauerzyklus: Konfirmation, Ernte, | |
| Sommer, Herbst und Winter. Egal, was geschieht, die Leute sagen: "Darüber | |
| stürzt die Welt nicht ein." Dabei passieren grausige Dinge, nur kümmert | |
| sich keiner so richtig ernsthaft darum. Ist die Gemeinschaft so sehr auf | |
| Routine ausgerichtet, dass sie mit plötzlich eintretenden Ereignissen wie | |
| dem Ersten Weltkrieg nicht umgehen kann? | |
| Der Krieg kommt einerseits plötzlich und andererseits nicht plötzlich. Der | |
| Lehrer sagt, irgendwer habe das Wort Krieg ausgesprochen, und dann geht das | |
| wie ein Lauffeuer herum. Und am Ende des Films, als die frisch Eingezogenen | |
| mit ihrem Büschel am Revers in der Kirche verabschiedet werden, sagt er: | |
| Alles würde nun anders werden, auch wenn man bis dahin der Überzeugung war, | |
| dass das eigene Leben ein gutes und gottgefälliges war. Gerade auf dem | |
| Land, und damals haben mehr als 80 Prozent der Bevölkerung auf dem Land | |
| gelebt, war das feudale System, das schon über zig Jahrhunderte Bestand | |
| hatte, das einzig vorstellbare. | |
| Diese Ungleichzeitigkeit ist eine Qualität des Films. Er ist historisch | |
| genau verortet, und dennoch hat man den Eindruck, an diesem Dorf ist die | |
| Zeit und der Fortschritt vorbeigegangen. Keiner spricht von Kommunismus | |
| oder Revolution, keiner stellt die Herrschaft des Barons in Frage. | |
| Das Jahr 1914 ist der Zusammenbruch der jahrhundertealten europäischen | |
| Welt. Alles, was nachher kam, war eine Folge dieses Bruchs. Nietzsche hatte | |
| zwar schon ein paar Jahre davor bekannt gegeben, dass Gott tot ist. Aber | |
| diese Erkenntnis bekam erst dann eine allgemeine Breitenwirkung. | |
| 10 Oct 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Dietmar Kammerer | |
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