| # taz.de -- Roman „Ich stelle mich schlafend“: Liebe im Korsett | |
| > In „Ich stelle mich schlafend“ lässt Deniz Ohde ihre Protagonistin in | |
| > eine toxische Liebesbeziehung schlittern. Ein Roman über Selbstauflösung | |
| > und Gewalt. | |
| Bild: Eingeschnürt in eine toxische Liebesbeziehung: Der neue Roman von Deniz … | |
| Yasemin, genannt Yase, ist 14 und rettungslos verliebt. Seit sie auf dem | |
| Weg zur Schule dem Nachbarsjungen Vito in die braun-grün-goldenen Augen | |
| gesehen hat, kreisen ihre Gedanken nur noch um ihn. Vom Balkon aus | |
| beobachtet sie die Wohnung, in der er mit seiner Mutter lebt. | |
| Sie malt sein Porträt aus dem Gedächtnis und heftet es jede Nacht über ihr | |
| Bett, beschwört mit einem Liebeszauber aus Kerzenwachs und Salbeitee seine | |
| Gefühle. Die normale Schwärmerei eines zum Spirituellen neigenden Mädchens, | |
| könnte man meinen – nur dass Deniz Ohdes Protagonistin eben das nicht ist: | |
| normal. | |
| „Yasemin wurde aus einem Willensbruch gezeugt“, heißt es im Roman | |
| wiederholt, die Umstände werden einmal ausgeführt. Die Mutter: | |
| [1][betrunken und vermutlich wehrlos], der Vater: rücksichtslos. Elf Jahre | |
| nach der Geburt die Hochzeit, als notdürftiger sozialer Kitt. Viel mehr | |
| erfährt man über diese Zweckehe nicht. | |
| Die perfektionistisch bügelnde Mutter, der auf Montage abwesende Vater | |
| erscheinen der Tochter wie Wachsfiguren. In dieser gefühlsarmen Umgebung | |
| flüchtet sich Yase in den Glauben an schicksalhafte Zeichen, die sie | |
| überall sieht: im Mond, in den Tarotkarten ihrer mütterlichen Freundin | |
| Lydia und in der fixen Idee, nur Vito könne sie retten. „In Vito würde sie | |
| sich auflösen. Das Ende wäre ein zärtliches.“ | |
| ## Einige Seiten Glück | |
| Selbstauflösung, Zwang, Gewalt: „Ich stelle mich schlafend“ erzählt von | |
| einer Liebesgeschichte, der das böse Ende eingeschrieben ist. Als Teenager | |
| kommt Yase zunächst davon. Nach einem Reitunfall wird bei ihr eine schwere | |
| Verkrümmung des Rückgrats festgestellt, sie muss auf Kur, bekommt ein | |
| Plastikkorsett. Aus Scham beendet sie die aufkeimende Liebesbeziehung zu | |
| Vito. Der offenbart sich der Leserin schon da als narzisstischer Arsch, der | |
| andere nur benutzt, um sich selbst groß zu fühlen. | |
| Vorerst lässt die Autorin ihre Protagonistin scheinbar vom Haken. Yasemin | |
| darf ausziehen, eine Arbeit finden, sich in einer Beziehung mit dem | |
| freundlichen Hermann wohlfühlen. Einige Seiten lang entwirft Deniz Ohde | |
| eine Erzählung bescheidenen Glücks – um diese Illusion gekonnt mit wenigen | |
| Sätzen zu zerfetzen: „Sie war enthaltsam. […] Schlug sich zum letzten Mal | |
| 2015 ins Gesicht. Merzte die Lust zum Tode aus. Keine Faktenlage wäre ihr | |
| eingefallen, die sie sich zum Vorwurf hätte machen können. Zum Beweis | |
| wusch sie ihre Hände in Unschuld, bis die Haut an den Knöcheln aufsprang.“ | |
| Selbst unter den besten Umständen vermag Yasemin ihren Selbsthass nicht | |
| abzuschütteln. Dann taucht, nach 21 Jahren, Vito wieder auf. Und mit einer | |
| Zwangsläufigkeit, die in Yasemins Körper und Psyche einprogrammiert zu sein | |
| schien, entfaltet sich diesmal mit voller Wucht ein Drama, das sich liest | |
| wie die Vorgeschichte einer Zeitungsmeldung über einen Femizid. | |
| ## Verpasste Gelegenheiten für Gegenwehr | |
| „Es kam nicht zur Gegenwehr“, mit solchen trockenen Sätzen skizziert Deniz | |
| Ohde eine Beziehung, die geprägt ist von einer Dynamik der Unterwerfung, | |
| die sie mit dem strafrechtlichen Begriff „vis compulsiva“, willensbeugende | |
| Gewalt, umreißt. Er bestimmt, sie fügt sich – wie es alle anderen | |
| Frauenfiguren in Yasemins Umgebung auch tun. „Weil es sein musste“, mit | |
| diesem freudlosen Grundmuster patriarchaler Sexualbeziehungen ist Yasemin | |
| groß geworden, und so verhält sie sich auch in der Beziehung zu Vito. | |
| Die Vielfältigkeit erlebter Grenzverletzungen, die vielen verpassten | |
| Gelegenheiten für Gegenwehr – bei konkreten Schilderungen gelingen Deniz | |
| Ohde wieder beeindruckende Sätze, die sich noch lange nach dem Lesen | |
| festsetzen als ein fast spürbarer Film des Selbstekels. Auch in ihrem | |
| zweiten Roman ist die Sprache der Frankfurter Autorin präzise und wuchtig, | |
| ihre Gabe, aus genau beobachteten Details Szenen zu konstruieren, | |
| beeindruckend. | |
| Trotzdem reicht „Ich stelle mich schlafend“ literarisch nicht an Ohdes' | |
| gefeiertes Debüt „Streulicht“ heran. Das liegt an der etwas lehrbuchhaft | |
| konstruierten Beziehungskonstellation zwischen den Hauptfiguren: Das durch | |
| Missbrauch gezeugte Mädchen wird zur [2][missbrauchten Frau], Opfer und | |
| Täter ziehen sich mit einer Zwangsläufigkeit an, die ein wenig aufzubrechen | |
| sich literarisch gelohnt hätte. | |
| Auch dass sich Yasemins Skoliose, das verborgene Rückgrat, in dieser | |
| zweiten Beziehung erneut zu krümmen beginnt, ist etwas zu viel der | |
| Metapher. Doch trotz dieser Schwächen besitzt der Plot allemal genug | |
| Sogkraft, um bis zum angekündigten Knall dabei zu bleiben. Und auch Yasemin | |
| wird am Ende doch noch so etwas wie individuelle Emanzipation zugestanden. | |
| 29 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
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