# taz.de -- Roman über Kosovo-Geflüchtete: Kein Identitätskitsch | |
> Im Roman „Meine Katze Jugoslawien“ erzählt Pajtim Statovci die Geschichte | |
> Geflüchteter aus dem Kosovo. Eine Erkundung zeitgenössischer | |
> Gefühlswelten. | |
Bild: Pajtim Statovcis Eltern flüchteten zwei Jahre nach seiner Geburt aus dem… | |
Stellen Sie sich vor, Sie kommen in eine Bar und sehen dort eine Katze, die | |
laut und betrunken „Believe“ von [1][Cher] singt – die würden sie doch a… | |
sofort mit nach Hause nehmen, oder? Der junge Bekim, der diese Szene in | |
einer Schwulenkneipe in [2][Helsinki] erlebt, tut das jedenfalls. | |
Was daraus wird, sei mal dahingestellt, denn bei dieser Geschichte handelt | |
es sich, Sie ahnen es, um eine Fabel. Bekim ist einer der beiden | |
Protagonisten in Pajtim Statovcis Roman „Meine Katze Jugoslawien“. Die | |
andere Hauptfigur ist Bekims Mutter Emine. Beide erzählen von ihren | |
Gefühlen, Gedanken und Erfahrungen als Einwanderer in Finnland, wohin sie | |
Anfang der 1990er Jahre geflüchtet sind. | |
Aus der inzwischen zum Genre gewordenen literarischen Verarbeitung | |
europäischer Migrationsgeschichten sticht Statovcis Erzählung hervor. Zum | |
einen wegen seiner literarischen Qualitäten: Statovci erzählt dicht, | |
humorvoll, intelligent, comichaft und allegorisch und bringt durch seine | |
Sprachmächtigkeit die Leser*innen so nah an die Hauptfiguren heran, dass | |
man meint, ihren Körpergeruch zu kennen. Zum anderen, weil er die Gefühle | |
des Fremdseins, des Sich-fremd-Fühlens und der Entfremdung großartig subtil | |
als unsichere Kantonisten behandelt. | |
So beschreiben Bekim und Emine einerseits die grundlegende Erfahrung von | |
Migranten, die ihre Heimat verloren oder nie eine gehabt haben, vom Neu- | |
oder Nieankommen in der neuen Sprache, von anderen Essens-, Familien- | |
Geschlechterkulturen. Selbstverständlich ist auch die Erfahrung von | |
Rassismus, Diskriminierung und Demütigung durch die Alteingesessenen ein | |
Thema, aber eben auch der Nationalismus und die Borniertheit der eigenen | |
Sippe. | |
## Gefühle lassen sich nicht vom Aufenthaltsstatus ableiten | |
Es wird der Hass auf Freunde, Mitschüler und Arbeitskollegen geschildert, | |
die bei noch so viel Empathie nicht wissen, was Krieg wirklich bedeutet. | |
Aber rühren all die Probleme wirklich nur aus der Situation, aus dem | |
Geburtsland geflohen zu sein? | |
Selbstverständlich nicht. Auch Migranten haben ganz normale Probleme, ihre | |
Gefühlswelt lässt sich nicht vom offiziellen Aufenthaltsstatus ableiten. | |
Jeder macht in seinem Leben, und das immer wieder, Entfremdungsprozesse | |
durch, fühlt sich fremd in der eigenen Familie, im eigenen Körper, im | |
eigenen Leben. | |
„Wir waren wie Landstreicher“, sagt Emine über das Leben in Finnland und | |
erzählt, wie sie in den 1970ern als Teenager im [3][ländlichen Kosovo] | |
davon träumt, Schauspielerin zu werden, von ihren Eltern aber auf ein Leben | |
als traditionelle Hausfrau vorbereitet wird. Sie heiratet mit 17 den | |
hübschen und klugen Bayram aus dem Nachbarort, der sich aber schon in der | |
Hochzeitsnacht als gewalttätig herausstellt. Obwohl er das bleibt, verlässt | |
sie ihn nicht, gebiert Kinder und flieht mit ihm vor dem Krieg nach | |
Helsinki. | |
Der jüngste Sohn Bekim ist traumatisiert von den Erzählungen und | |
Nachrichten über die Gewalt des Krieges und der Gewalt seines Vaters und | |
geplagt von der Angst davor, zu enttäuschen oder enttäuscht zu werden. In | |
seiner eigenen Wohnung versucht er seine Einsamkeit zu bekämpfen, in dem er | |
sich eine Boa zulegt, die unter seinem Sofa und auf seinem Körper lebt, und | |
er lässt die Katze aus der Bar bei sich einziehen und beginnt eine Affäre | |
mit ihr. | |
## Eine toxische Katze | |
Später hat er auch eine Beziehung zu einem echten Mann. Doch während er vom | |
Körper dieses Geliebten zunächst stark angezogen ist, findet er ihn nach | |
dem Koitus abstoßend, stinkend und hässlich. Während er diesen Mann, der | |
ihn liebt, zurückweist, lässt er sich von der Katze, die sich als | |
homophobes, fieses, ihn ausnutzendes Arschloch herausstellt, beleidigen und | |
schafft es lange nicht, die toxische Beziehung zu ihr zu beenden. | |
Erfahrungen, die so gut wie jeder kennt, die nicht unbedingt ans | |
Migrantendasein geknüpft sind. Und doch können weder Bekim noch Emine ihre | |
Unsicherheiten als normal empfinden, schieben die Verantwortung für ihre | |
komischen Gefühle immer wieder der erzwungenen Heimatlosigkeit in die | |
Schuhe. Ihre intimen Gedanken, wie die Hingezogenheit zu Personen und | |
Dingen, zu denen man sich eigentlich nicht hingezogen fühlen sollte, ihr | |
Ekel vor den Körpern der anderen, teilen sie mit niemandem, schon gar nicht | |
innerhalb der Familie. Aber auch das ist nichts, was Nichtmigrierten nicht | |
auch passieren würde. | |
Die Katze sagt die Schlüsselsätze zu diesem Roman, dessen Schlüsselwort im | |
Deutschen mit „Anderssein“ übersetzt wurde: „Anderssein ist eine Last. | |
Zuerst versucht man, sich anzupassen, und wenn das nicht gelingt, fängt man | |
an, die dümmsten Witze von sich zu geben, damit das eigene Anderssein im | |
Lachen untergeht, und wenn die Witze nicht mehr lustig sind, fängt das | |
Lügen an. Und wenn das nicht mehr reicht, ist es an der Zeit, den Koffer zu | |
packen und abzuhauen.“ | |
## Kluge Antwort auf die deutsche Einwandererliteratur | |
Mal abgesehen von der wilden Geschichte mit der singenden Katze, erzählt | |
Statovci anschaulich, plastisch, haptisch. Er wechselt verschiedene | |
Erzählformen, die dem Beschriebenen formal begegnen: Alles beginnt mit der | |
Darstellung eines kuriosen Chatverlaufs einer finnischen Dating-App, es | |
folgen wilde und fantastische Traumsequenzen, in denen Bekim unter anderem | |
Sex mit der Bar-Katze hat, um dann wieder extrem detaillierte | |
Beschreibungen der penibel einzuhaltenden Vorbereitungen und Abläufe | |
traditioneller Hochzeiten im Kosovo zu liefern. | |
Auch die Szenen, in denen geputzt wird, sind so penibel. Denn Emine und | |
Bekim sind beide obsessive Putzer. Bloß alles sauber halten, damit niemand | |
„dreckige Ausländer“ sagen kann, ist die eine Erklärung dafür. Die ander… | |
dass Emines Familie im Kosovo sie zu absoluter Sauberkeit und Ordnung | |
erzogen und Bekim es von ihr geerbt hat. Das fleckenlose Sauberhalten | |
gelingt natürlich weder Emine noch Bekim. Das Leben schmeißt ihnen immer | |
wieder Dreck vor die Füße. Es gibt keine Perfektion. Jeder riecht. Hinter | |
jeder sauberen Fassade gibt es eine Ecke, in die kein Wischmopp passt. | |
„Meine Katze Jugoslawien“ liest sich wie eine sehr kluge Antwort auf die | |
deutsche Einwandererliteratur, die sich allzu oft damit zufrieden gibt, ein | |
schweres Schicksal wiederzugebeben. Doch Statovcis Roman ist bereits 2014, | |
also vor exakt zehn Jahren, in Finnland erschienen. Der Autor hat natürlich | |
Teile seiner eigenen Erfahrungen in den Roman einfließen lassen: Er wurde | |
1990 in Kosovo geboren, zwei Jahre später flohen seine Eltern mit ihm nach | |
Finnland, wo er bis heute lebt und schon drei Romane veröffentlicht hat. | |
Sein Debüt gewann etliche Preise in Finnland und in Übersee, und trotzdem | |
ist die deutsche Übersetzung gerade erst erschienen. | |
Man kann die singende, fiese, aber schlaue Katze für pseudofantastischen | |
Schmu halten, für den finnisch-kosovarischen Versuch, die Menschenkatze | |
Behemoth aus Michail Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“ zu | |
imitieren. Doch das Fabelhafte in Statovcis Roman ist so grotesk wie | |
grandios. Es ist eben nicht erzählendes, auf Integrations- und | |
Identitätsprobleme fokussierendes Memoir, sondern die Erkundung | |
zeitgenössischer Gefühlswelten von jedermann. | |
5 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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