# taz.de -- Literaturnobelpreis für Abdulrazak Gurnah: Ein ungewöhnlicher Aut… | |
> Das Werk des Literatur-Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah spiegelt die | |
> Geschichte einer Weltregion wider – in ihrer gesamten Vielschichtigkeit. | |
Bild: Abdulrazak Gurnah in seinem Garten in Canterbury | |
Abdulrazak Gurnah ist ein ungewöhnlicher Autor – nicht nur für die | |
Tradition des Nobelpreises, sondern auch in seiner Eigenschaft als | |
afrikanischer Autor, der in Großbritannien lebt. Gurnah, der zweimal für | |
den britischen Booker Prize nominiert war, schreibt über Postkolonialismus | |
außerhalb der üblichen Oppositionen. Sein Interesse gilt den Bewegungen der | |
Literatur und der Sprache – [1][ein Werk, in dem es um Menschen geht, die | |
ohne Heimat sind.] | |
„Paradise“ heißt einer seiner besten Romane, er handelt nicht nur von | |
Kolonisierung, sondern auch von Themen wie Sklaverei und Religion. Die zwei | |
zentralen Figuren des Romans sind der Händler Aziz und die Hauptfigur, der | |
junge Yusuf. „Paradise“ zeigt die Komplexität von Gurnahs Schreiben | |
besonders deutlich. In Yusuf verbindet der Autor religiöse, literarische | |
und historische Geschichten, die in der Figur zusammenkommen, um sein Elend | |
nachdrücklich zu erklären. In Yusufs Geschichte spiegelt Gurnah die | |
Geschichte des Yusuf aus dem Koran, der auch dem alttestamentarischen | |
Joseph entspricht. | |
Yusuf wurde an den Händler Aziz verkauft, erfährt dies aber erst, als er | |
älter ist. Zunächst vermutet er in Aziz einen Verwandten – und im Vergleich | |
zu den Verwandten aus anderen Romanen von Gurnah ist Aziz deutlich netter, | |
freundlicher und vor allem weniger übergriffig. Im Verlauf des Romans | |
ändert sich diese Wahrnehmung. Im Gegensatz zur Erzählung aus dem Koran | |
endet Yusufs Geschichte nicht im Kreise seiner Familie – sondern in den | |
Rängen der Askaris, der sogenannten „Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika“. | |
Solche Hinweise auf die europäische Kolonialgeschichte finden sich häufig | |
in Gurnahs Büchern. | |
Parallel zur koranischen Erzählung hat Gurnah seinen Roman mit weiteren | |
Erzählern gefüllt. Geschichten über Prinzessinnen, Dschinns und natürlich | |
das Paradies werden dargeboten von Figuren, deren Leben weiter nicht | |
entfernt sein könnte von paradiesischen Zuständen. Gleichzeitig spüren die | |
Figuren des Romans auch die Nachwirkungen von geschichtlichen und sozialen | |
Erzählungen. Yusuf merkt schnell, dass er von allen diesen Geschichten | |
ausgeschlossen ist. Als ungebildeter Mensch ist er sozial so außen vor, | |
dass er in Betracht zieht, mit Kindern zur Schule zu gehen, um seine Scham | |
zu überwinden. | |
## Eine Reise nach Nairobi | |
„People of honor“ nennen sich die gebildeten Menschen an der Küste in | |
diesem Buch, was Yusuf automatisch ehrenlos macht. Aber auf seinen Reisen | |
ins Landesinnere mit Aziz merkt Yusuf auch, dass der Sklavenhandel unter | |
den Menschen Erinnerungen und Erzählungen hinterlassen hat, die ihn und die | |
ganze Karawane einem Grundverdacht aussetzen. „Wilde“ – das sind in Gurna… | |
Roman immer die anderen. | |
Zuletzt flieht Yusuf in die Ränge der deutschen Armee und wird Askari. Das | |
koranische Vorbild verwandelt sich bei Gurnah in ein Leben als Fußsoldat in | |
der „Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika“. Am Ende schließt sich eine Tür. | |
Schon in Gurnahs Debütroman „Memory of Departure“, der 1987 erschien, | |
schloss sich am Ende eine Tür, aber es ist eine Tür aus Scham. Hassan, die | |
Hauptfigur des Romans, kommt von der Küste, und zwar aus einem Dorf, in dem | |
Gewalt allgegenwärtig ist. Hassans Vater, so geht das Gerücht, hatte Kinder | |
in die Sklaverei verkauft, und Hassan schaut ihm später dabei zu, wie er | |
seine Mutter vergewaltigt. Hassan selbst wird von Mitschülern belästigt und | |
bedroht. Schließlich unternimmt er – wie Yusuf – eine Reise. | |
Hassan fährt nach Nairobi zu seinem reichen Onkel, der ihm erzählt, wie | |
zivilisiert die Menschen an der Küste doch seien. Hassan fühlt sich als | |
Fremder – und von der Küste zu stammen und klug zu sein erwirbt ihm keine | |
Vorteile. In Nairobi ist Hassan der arme Verwandte – „with plenty of brains | |
but no money“ –, und er wird am Ende ausgestoßen, weil er Schwierigkeiten | |
hat, zwischen den Machtverhältnissen, die ihn zwischen Klasse und | |
Geschlechtlichkeit einzwängen, richtig zu navigieren. Beschuldigt, die | |
Tochter seines Gastgebers entehrt zu haben, wird er aus dem Haus seines | |
Onkels geworfen. | |
## Die Echos von Gewalt und Verlorenheit | |
Wie Yusuf ist Hassan jemand, der zwischen den Erzählungen steht, vor allem | |
den Erzählungen über seinen Vater und die größere Erzählung über Scham und | |
Ehre. Sein Vater, ein Alkoholiker, der wegen Päderastie im Gefängnis war, | |
bestimmt, wie Menschen über Hassan im Dorf ebenso wie im Haus seines | |
reichen Onkels über ihn denken. „Wir haben einen Clown erwartet“, gibt die | |
Tochter des Onkels zu. | |
Scham und Ehre sind an patriarchale Macht gebunden: Hassans Vater wurde als | |
junger Mann verheiratet, weil seine Mutter annahm, eine junge Frau würde | |
ihn von seinem „interest in anuses“ heilen. Homosexuelle Handlungen als | |
Schammoment kommen am Anfang des Buches immer wieder vor. So verwenden auch | |
Hassans Mitschüler sexuelle Akte als Machtinstrument. Die Reaktion von | |
Hassans Vater ist ein übersteigertes Gefühl für seine eigene Ehre, und | |
misogyne Gewalt. | |
Hassan versucht, über Bildung und die Beziehung zu der Tochter aus gutem | |
Haus aus diesem Kreislauf zu entkommen – findet sich aber darin gefangen. | |
Am Ende flieht auch Hassan – und arbeitet auf einem Schiff, in dessen | |
streng riechendem Bauch. Die Echos von Gewalt und Verlorenheit finden sich | |
überall im Werk von Abdulrazak Gurnah, mit dem die Akademie einen Autor | |
geehrt hat, der eine einzigartige Perspektive auf die Geschichte Afrikas | |
bietet. | |
7 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Marcel Inhoff | |
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