| # taz.de -- Nobelpreis für Literatur: Auszeichnung für Abdulrazak Gurnah | |
| > Den diesjährigen Literaturnobelpreis erhält der tansanische | |
| > Schriftsteller Abdulrazak Gurnah. In seinen Werken setzt er sich mit | |
| > Kolonialismus und Flucht auseinander. | |
| Bild: Ist nun Träger des Literaturnobelpreises: Schriftsteller Abdulrazak Gurn… | |
| Stockholm taz | Den Nobelpreis für Literatur 2021 erhält der tansanische | |
| Schriftsteller Abdulrazak Gurnah. Das gab die Königlich Schwedische | |
| Akademie am Donnerstag um 13 Uhr in Stockholm vor | |
| Pressevertreter*innen bekannt. Damit gewinnt erneut ein | |
| Schriftsteller, den die meisten Expert*innen zuvor nicht auf ihrer | |
| Favorit*innenliste hatten. | |
| Abdulrazak Gurnah erhalte die Auszeichnung für seine kompromisslosen und | |
| mitfühlenden Werke über die Auswirkungen des Kolonialismus und des | |
| Schicksals von Geflüchteten, erklärte das Nobelkomitee am Donnerstag. Auf | |
| Deutsch erschien von Gurnah das Buch „Das verlorene Paradies“ aus dem Jahr | |
| 1994, was seinen Durchbruch als Schriftsteller markierte. Laut | |
| Nobelpreisjury entstand das Buch aus einer Forschungsreise nach Ostafrika. | |
| Es ist eine traurige Liebesgeschichte, ein Coming-of-Age-Roman. | |
| Gurnah wurde 1948 auf der Insel Sansibar geboren und kam Ende der 1960er | |
| Jahre als Geflüchteter nach Großbritannien. Dort lebt er auch heute noch. | |
| Sein Buch „Die Abtrünnigen“ aus dem Jahr 2006 wurde [1][in der taz | |
| rezensiert.] Gurnah publizierte zehn Romane und zahlreiche Kurzgeschichten. | |
| An der Universität in Kent war er Professor für englische und postkoloniale | |
| Literatur, inzwischen ist er im Ruhestand. | |
| Über die Auszeichnung wurde der tansanische Schriftsteller am Telefon | |
| informiert und habe den Anruf zunächst für einen Scherz gehalten, sagte die | |
| Jury bei der Vergabe in Stockholm. Die Schwedische Akademie würdigte mit | |
| dem Preis Gurnahs „Abneigung gegen Vereinfachungen“. Seine Romane | |
| verzichteten „auf stereotype Beschreibungen und öffnen unseren Blick auf | |
| ein kulturell vielfältiges Ostafrika, das in anderen Teilen der Welt vielen | |
| unbekannt ist“. | |
| Die Grünen-Politikerin und Islamwissenschaftlerin der Universität | |
| Duisburg-Essen Lamya Kaddor begrüßt die Entscheidung aus Stockholm: | |
| „Afrikanisch. Antikolonialistisch. Asylorientiert. Hätten wir Autoren wie | |
| Abdulrazak #Gurnah früher übersetzt und stärker wahrgenommen, wäre vielen | |
| vieles wohl früher klargeworden – auch hinsichtlich menschenverachtender | |
| #Pushbacks. Eine sehr gute Entscheidung“, [2][schreibt Lamya Kaddor auf | |
| Twitter]. | |
| ## Überraschung auch schon im vergangenen Jahr | |
| Im vergangenen Jahr hatte auch ihren Namen wohl niemand auf dem Schirm. Mit | |
| [3][Louise Glück] ist der Jury bei der Vergabe des Literaturnobelpreises | |
| 2020 eine Überraschung gelungen. In den Zeitungsredaktionen liefen die | |
| Drähte heiß. Wer schreibt jetzt noch bis Printschluss einen guten Text zu | |
| der eher unbekannten Gewinnerin des wohl bekanntesten Literaturpreises? | |
| Glück für die Redaktionen, dass die US-amerikanische Lyrikerin wenigstens | |
| einen Namen hatte, mit dem sich allerlei [4][Wortspiele] machen ließen. | |
| Das Rätselraten, wer in diesem Jahr von der schwedischen Akademie | |
| ausgezeichnet wird, lief bereits seit Tagen. Bei Verlagsmenschen, | |
| Buchmacher*innen und den Wettbüros fallen vorab jedes Jahr einige Namen | |
| von möglichen Favorit*innen. In diesem Jahr waren darunter vor allem | |
| Schriftstellerinnen, aber auch ein Schriftsteller. Der nun feststehende | |
| Preisträger Gurnah war nicht darunter. | |
| ## Wer sind die Favorit*innen? | |
| Genannt wurde stattdessen die kanadische Dichterin und Essayistin Anne | |
| Carson, 71 Jahre alt, aus Toronto. „Autobiography of Red: A Novel in Verse“ | |
| von 1998 und „Red Doc“ aus dem Jahr 2013 sind ihre bekanntesten Romane. Wie | |
| auch schon in den Jahren davor fiel auch häufiger der Name Margaret | |
| [5][Atwood], 81 Jahre alt und ebenfalls aus Kanada. Ihr dystopischer Roman | |
| „The Handmaid’s Tale“, auf deutsch „Der Report der Magd“ aus dem Jahr… | |
| ist berühmt und bekam durch die US-Serienübersetzung von 2017 neue | |
| Aufmerksamkeit. | |
| Ebenfalls seit Jahren wird von Expert*innen der kenianische | |
| Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Ngũgĩ Wa Thiong’o als Favorit auf | |
| den Nobelpreis genannt. Ngũgĩ ist 83 Jahre alt und verfasst alle seine | |
| Romane in seiner Erstsprache Kikuyu. Er gilt als einer der bedeutendsten | |
| Schriftsteller Ostafrikas. Außerdem im Gespräch für die Auszeichnung war | |
| die [6][französische Schriftstellerin Annie Ernaux], 81 Jahre alt und | |
| besonders besonders für ihren Roman „Les Années“ aus dem Jahr 2008. In der | |
| deutschen Übersetzung erschien der autosoziobiografische Roman „Die Jahre“ | |
| 2017. | |
| Dass der Preis an eine deutsche Autorin oder einen deutschen Autor geht, | |
| war in diesem Jahr unwahrscheinlich. Bereits zehn Mal wurden Autor*innen | |
| aus Deutschland mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Zuletzt bekam | |
| ihn im Jahr 2009 die deutsche Schriftstellerin Herta Müller, die 1953 in | |
| Rumänien geboren wurde. | |
| ## Preis mit vielen Kontroversen | |
| Die Vergabe des Literaturpreises ist seit einigen Jahren überschattet von | |
| Diskussionen und Kontroversen. Als der österreichische Schriftsteller und | |
| Übersetzer Peter Handke den Literaturnobelpreis im Jahr 2019 erhielt, gab | |
| es Proteste. Der Österreicher hatte sich im Jugoslawienkonflikt stark mit | |
| Serbien solidarisiert und nach Ansicht seiner Kritiker*innen serbische | |
| Kriegsverbrechen bagatellisiert. Auch seine Nobelpreis-Dankesrede wurde von | |
| vielen Seiten kritisiert, da sich der Autor nicht zu den Vorwürfen gegen | |
| seine Person äußerte. | |
| Zuvor war im Jahr 2018 die Vergabe des Nobelpreises für Literatur | |
| ausgesetzt worden. Der Hintergrund waren [7][schwere Vorwürfe gegen | |
| Jean-Claude Arnault], den Ehemann von Akademiemitglied Katarina Frosten, | |
| wegen sexualisierter Gewalt im Rahmen der #MeToo-Bewegung. Im November 2017 | |
| beschuldigten 18 Frauen aus dem Umfeld der Nobelpreisakademie Arnault | |
| sexueller Übergriffe. Ende 2018 wurde er dann wegen Vergewaltigung zu | |
| zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. | |
| Besonders schwerwiegend für die schwedische Akademie war in diesem | |
| Zusammenhang auch, dass das Paar Arnault/Frosten beschuldigt wurde, Namen | |
| von Nobelpreisträger*innen im Vorfeld der Verleihungen ausgeplaudert | |
| zu haben. Das ist angesichts der Wetten, die jedes Jahr auf die | |
| Preisträger*innen abgeschlossen werden, ein lukratives Geschäft. Im | |
| Zuge der Aufklärung musste die Juryvorsitzende Sara Danius gehen. Zusammen | |
| mit Handke ehrte das Komitee nachträglich für das Jahr 2018 die polnische | |
| Schriftstellerin Olga Tokarczuk mit dem Literaturnobelpreis. | |
| ## Immer noch wenig weibliche Nobelpreisträgerinnen | |
| Sie war damit die 15. Frau, die die renommierte Auszeichnung im Bereich | |
| Literatur entgegenahm. Die Preisträgerin aus dem vergangenen Jahr, Louise | |
| Glück, ist die 16. weibliche Nobelpreisgewinnerin. | |
| Die Zahl der Frauen unter allen Nobelpreisträger*innen nimmt stetig | |
| zu, ist aber immer noch gering. Seit der ersten Vergabe im Jahr 1901 bis | |
| zum Jahr 2019 waren nur 54 von 923 Preisträger*innen Frauen, also etwas | |
| mehr als fünf Prozent. Besonders gering ist der Anteil von weiblichen | |
| Preisträgerinnen beim Wirtschaftsnobelpreis (2,4 Prozent), und auch in den | |
| naturwissenschaftlichen Kategorien liegt er bei nur 3,2 Prozent. | |
| Mit 13 Prozent beim Anteil weiblicher Gewinnerinnen kann sich der | |
| Literaturnobelpreis also sehen lassen. Prozentual gewinnen am meisten | |
| Frauen beim Friedensnobelpreis – immerhin 15,9 Prozent. | |
| Der erste Nobelpreis für Literatur wurde 1901 an den französischen Poeten | |
| Sully Prudhomme vergeben. Seitdem haben 117 Autor*innen ihn erhalten. | |
| Zwei Autoren lehnten die Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis bisher | |
| ab: 1958 musste der sowjetische Autor Boris Pasternak den Preis auf Druck | |
| seiner Regierung zurückweisen. 1964 weigerte sich der Franzose Jean-Paul | |
| Sartre, die Auszeichnung anzunehmen. Er wollte seine Unabhängigkeit | |
| bewahren. | |
| Kritik an der Auswahl der bisherigen Preisträger*innen gibt es immer | |
| wieder, da der hochdotierte Preis – auch in diesem Jahr liegt das Preisgeld | |
| bei rund 950.000 Euro – bisher vornehmlich an Autor*innen aus dem nord- | |
| und mitteleuropäischen Sprachraum verliehen wurde. Bislang wurden nur | |
| wenige Schwarze Autor*innen mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. | |
| ## Änderung im Juryverfahren | |
| In der Jury des Literaturnobelpreises gab es nach den Kontroversen | |
| zahlreiche Umbesetzungen, auch weil viele Mitglieder ihr Amt niederlegten. | |
| Die Akademie verkündete dann eine Änderung ihrer Arbeitsweise: Von den 18 | |
| Jurymitgliedern aus der Akademie bilden fünf das explizite „Nobelkomitee“, | |
| treffen die Auswahl aber „in engem Kontakt“ mit den anderen Mitgliedern. | |
| Außerdem hat die Akademie eine Expert*innengruppe von zehn Personen | |
| eingerichtet, die vorerst für drei Jahre benannt werden und auf Wunsch auch | |
| anonym bleiben dürfen. Sie sollen den Sprachraum „für die afrikanischen | |
| Länder, den spanischsprachigen Raum, den arabischen und persischen | |
| Sprachraum, den ostasiatischen Sprachraum, den slawischen Sprachraum und | |
| den indischsprachigen Raum“ abdecken und im Januar „eine | |
| Argumentationsübersicht einsenden und Fragen des Komitees zu einzelnen | |
| Kandidaten beantworten“, so die Erläuterung in der Pressemitteilung der | |
| Akademie. | |
| 7 Oct 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Archiv-Suche/!312261&s=Abdulrazak+Gurnah&SuchRahmen=Print/ | |
| [2] https://twitter.com/LamyaKaddor?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctw… | |
| [3] /Literaturnobelpreis-2020/!5715718 | |
| [4] /Archiv-Suche/!5719021&s=Louise+Gl%C3%BCck&SuchRahmen=Print/ | |
| [5] /Margaret-Atwoods-Die-Zeuginnen/!5624819 | |
| [6] /Neues-Buch-zur-Geschichte-Frankreichs/!5606645 | |
| [7] /Nobelpreisjury-Skandal-in-Schweden/!5597177 | |
| ## AUTOREN | |
| Linda Gerner | |
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