# taz.de -- Roman „Der Kolibri“ von Sandro Veronesi: Die Mär von der Verä… | |
> Sandro Veronesis preisgekrönter Roman „Der Kolibri“ liegt auf Deutsch | |
> vor. Anachronisch erzählt er die Geschichte einer italienischen Familie. | |
Bild: Der Schriftsteller Sandro Veronesi, aufgenommen im November 2020 in Rom | |
„Bei mir gibt es nie etwas Neues“, lässt Marco Carrera verlauten, | |
Protagonist in Sandro Veronesis neuem Roman „Der Kolibri“, für den der | |
Autor im Jahr 2020 bereits zum zweiten Mal mit den wichtigsten | |
italienischen Literaturpreis, dem Premio Strega, ausgezeichnet worden ist, | |
„wenn überhaupt, so kann man mir das vorwerfen“. | |
Der Roman, der seither in viele Sprachen übersetzt und mittlerweile auch in | |
– stellenweiser schludriger – deutscher Übersetzung im Zsolnay Verlag | |
veröffentlicht worden ist, erschien im Original bei La Nave di Teseo, dem | |
italienischen Verlag, den Sandro Veronesi im Jahr 2015 zusammen mit Umberto | |
Eco gegründet hat. | |
Zu Beginn der Handlung wird Marco Carrera vom Psychoanalytiker seiner Frau | |
informiert, dass sie ihn verlassen werde und Bescheid wisse über sein nie | |
abgeebbtes Empfinden für seine Jugendliebe, Luisa Lattes, mit der er sich | |
Briefe schreibt und die ihn einen Kolibri nennt, da er – wie ein Kolibri – | |
seine gesamte Energie darauf verwenden würde, auf der Stelle zu bleiben. | |
Der Held des Romans, den Veronesi in langer Tradition (Martin Eden, | |
[1][Anna Karenina]) nicht nach dessen Namen, sondern nach seinem Spitznamen | |
benannte, glaubt nicht an die Mär, „sich immer ändern, verbessern, | |
steigern, wachsen“ zu müssen: seine Beharrlichkeit macht aus ihm im | |
Romanverlauf einen Avantgardisten. | |
Veronesi erzählt episodisch und in polyphoner Form (Briefe, E-Mails, | |
Dialoge, SMS, Tagebucheinträge und sogar Bestandsaufnahmen des typischen | |
Sechziger-Jahre-Hausrats wechseln sich ab) die Geschichte der Familie | |
Carrera, die gleichzeitig die Verfallsgeschichte einer heute nur mehr | |
nostalgisch nachklingenden italianitá, eines italienischen Stils, ist, der | |
an den Reichtum der Nachkriegsjahre, den sogenannten boom economico, | |
geknüpft war, allerdings kaum drei Jahrzehnte währte. | |
Jene Jahre, Carrera entspringt, wie sein Schöpfer, dem Jahrgang 1959, | |
prägte das Pochen auf große, weitreichende Veränderungen – sozialer, | |
politischer wie gesellschaftlicher Natur, die letztlich jedoch ausblieben | |
beziehungsweise nicht dergestalt in Erscheinung traten, wie eine damals | |
junge und veränderungswütige Generation es sich erhofft hatte. | |
## Die Figur Marco Carreras ist ein literarischer Gegenentwurf | |
Er habe sich gefragt, sagte Veronesi auf dem Internationalen | |
Literaturfestival in Berlin, was gewesen wäre, wenn er – wie viele andere | |
nach dem Ausbleiben jener ersehnten Erneuerungen desillusioniert | |
zurückgeblieben – sich dem Drängen auf Veränderung verwehrt, seine Energie | |
für andere Anlässe aufgespart hätte. | |
Über die Figur Marco Carreras gelingt ein literarischer Gegenentwurf: Der | |
moderat auftretende Augenarzt, ehemals Tennisspieler, Skifahrer, Gambler, | |
verändert sich allein dadurch, dass er sich ausdrücklich nicht verändern, | |
nichts verändern will: „Es gibt Menschen, die sich ihr ganzes Leben lang | |
damit abmühen, voranzukommen, Wissen zu erwerben, zu erobern, zu entdecken, | |
besser zu werden, um dann zu erkennen, dass sie immer auf der Suche nach | |
der Vibration sind, die sie in die Welt geschleudert hat […] Und dann gibt | |
es andere, die, obwohl sie sich nicht bewegen, einen langen und | |
abenteuerlichen Weg zurücklegen.“ | |
Marco Carrera hält fest an den Dingen, die ihm etwas bedeuten, die ein | |
Leben gehabt haben und demnach eine Würde besitzen und die er für | |
„unschuldig“ hält: „Es handelt sich um all das, was von einem Leben und | |
einer Familie übrigbleibt […] und auch wenn die Dinge sich so entwickelt | |
haben, wie sie sich entwickelt haben, gibt es keinen Grund, glaub mir, sie | |
zu ‚entsorgen‘ […] Unglück auf Unglück häufend.“ | |
Mit seiner anachronischen Erzählweise – keine Montage, versichert der | |
studierte Architekt, vielmehr ein Patchwork, dessen heterogene Erzählblöcke | |
er mittels der verschiedenen narrativen Formen zusammenhalte – bricht | |
Veronesi die, wie er sie nennt, „Tyrannei der Zeit“ auf, denn anders als im | |
wahren Leben sei es in der Literatur sehr wohl möglich, vor- und | |
zurückzuspringen, vom Jahr 2008 ins Jahr 1979. | |
„Der Kolibri“ endet in der nahen Zukunft, im Jahr 2030, mit einem neuen, | |
weitaus zuversichtlicheren Menschen- und Zukunftsbild, als wir es uns | |
gegenwärtig vorzustellen gewillt sind: „Der Mensch der Zukunft“, heißt es, | |
„ist eine Frau.“ | |
Auf die Frage, wie viel von diesem Menschen der Zukunft man denn | |
gegenwärtig in der von Chauvinismus, Hypokrisie und Patriarchalismus | |
durchdrungenen italienischen Gesellschaft abgebildet fände, antwortet der | |
Autor ausweichend – nicht ohne Grund habe er für den Schluss das Jahr 2030 | |
und nicht das Jahr 2021 gewählt – und verweist auf das [2][Tiktok-Video der | |
jungen Amerikanerin Feroza Aziz], die im Jahr 2019 den Algorithmus mithilfe | |
eines Schmink-Tutorials austrickste, um auf die Menschenrechtsverletzungen | |
gegen die Uiguren in China aufmerksam zu machen. | |
Der Verfilmung des Romans, in der Pierfrancesco Favino Marco Carrera und | |
Nanni Moretti den Psychoanalytiker in Szene setzen werden, nimmt sich die | |
italienische Regisseurin Francesca Archibugi an. Bleibt also zu hoffen, | |
dass bis ins Jahr 2030 auch in Italien die Ausnahmen zur Regel werden. | |
11 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Marielle Kreienborg | |
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