# taz.de -- Buchpreis für Antje Rávik Strubel: Irgendwie unangenehm | |
> Antje Rávik Strubel erhält für „Blaue Frau“ den Deutschen Buchpreis 20… | |
> Doch ihr #MeToo-Roman über eine junge Tschechin wirft einige Fragen auf. | |
Bild: In „Blaue Frau“ geht es um eine Vergewaltigung durch einen deutschen … | |
Warum ist die Frau blau, die im Titel dieses Romans steht? Es ist schwer zu | |
sagen. Vielleicht, weil die Wortzusammenstellung einen hübschen Binnenreim | |
ergibt, was lyrisch und dadurch irgendwie bedeutungsvoll wirkt. | |
Höchstwahrscheinlich handelt es sich aber eher nicht um die literarische | |
[1][Wiederkehr der Jungfrau Maria,] die ja als blaue Frau schlechthin in | |
die Kulturgeschichte eingegangen ist. | |
Hat die religiös unbelastete Rezensentin eigentlich ein komisches, ganz | |
individuelles Problem, wenn ihr beim Lesen immer wieder ungefragt, absolut | |
unpassend, Bilder der Jesusmutter durchs Hirn blitzen? Das ist sehr lästig, | |
denn die blaue Frau aus dem Buchtitel taucht im Laufe des Romans immer | |
wieder auf, als geheimnisvolle Fremde, der ein Autorinnen-Ich auf den | |
Straßen der Randgebiete von Helsinki begegnet. | |
Autorinnen-Ich, blaue Frau und beider zufällige und dadurch gleichsam | |
schicksalhafte Zusammentreffen bilden eine Art Rahmengeschichte, die sich | |
in dünnen Schichten in den Roman schiebt und deren Funktion darin besteht, | |
einen Erzählanlass für die eigentliche Handlung zu liefern. Gleichzeitig | |
wird damit angedeutet, das Autorinnen-Ich könnte möglicherweise | |
autobiografisch mit der tatsächlichen Autorin verbunden, die erzählte | |
Handlung also der Realität entlehnt sein. | |
Die eigentliche Geschichte ist folgende: Eine junge Frau, eine Tschechin | |
mit dem seltsam untschechischen Namen Adina, geht aus ihrem Dorf im | |
Riesengebirge in die weite Welt hinaus. In Berlin, wo sie einen Sprachkurs | |
macht, lernt sie die Fotografin Rickie kennen, die ihr ein Praktikum auf | |
einem entlegenen Gut an der Oder vermittelt, wo jemand ein Kulturzentrum | |
aufbauen will. | |
Als ein wichtiger Kulturfunktionär das Anwesen besucht, wird die junge | |
Praktikantin von dem Mann vergewaltigt (was nirgendwo in aller Deutlichkeit | |
geschrieben steht, sondern sich aus dem Drumherum ergibt). Sie meldet den | |
Übergriff ihrem Chef, doch alle spielen den „Vorfall“ herunter. Adina | |
flüchtet Hals über Kopf, landet eher zufällig in Finnland, versucht das | |
Ganze zu vergessen und lernt einen Mann kennen, einen estnischen | |
Europadiplomaten, mit dem sie zusammenzieht. | |
## Den Deutschen anzeigen | |
Da taucht auf einem wichtigen Empfang, den sie mit ihrem Freund besucht, | |
ihr Vergewaltiger auf, und Adina merkt, dass sie das Erlebte nur hinter | |
sich lassen kann, wenn sie es wagt, den politisch einflussreichen Deutschen | |
anzuzeigen. | |
Antje Rávik Strubel erzählt diese Geschichte in gebrochener Chronologie. In | |
die schmale äußere Rahmenhandlung passt sich ein umfangreicherer | |
Erzählrahmen ein, der in Finnland spielt und in dem die blaue Frau als | |
identisch mit Adina erkennbar wird. Alle Ereignisse, die zur | |
Finnlandepisode geführt haben, nehmen als Rückblick die Mitte des Romans | |
ein. | |
Dieser komplexe Aufbau, dessen äußerste Schicht etwas latent Manieriertes | |
hat, ist nach innen gut darin begründet, dass es eines schockierenden | |
Erlebnisses bedarf, damit das verdrängte Trauma ans Tageslicht kommen und | |
zur Narration werden kann. | |
## Verklausuliert erzählt | |
Formbewusstsein ist dieser Prosa auf allen Ebenen sehr tief eingeschrieben. | |
Strubel beherrscht ihre Formen unbedingt. Auch sprachlich sitzt alles | |
perfekt; die Sätze, die sie schreibt, sind von ausgesuchter Schlichtheit | |
und Klarheit. Doch gleichzeitig ist jederzeit ein starkes Kunstwollen | |
spürbar, das sich in der Wahrnehmung mitunter so weit nach vorn schiebt, | |
dass die Form das eigentliche Sujet zu überlagern droht – und daneben auch | |
den möglichen metaphorischen Gehalt, den die Handlung außerdem | |
transportiert. | |
Denn hinter der [2][verklausuliert erzählten #MeToo-Geschichte] lässt sich | |
eine weitere narrative Linie mitlesen. Oder hat es etwa nichts zu bedeuten, | |
wenn eine Tschechin sich ausgerechnet in die Arme eines Esten, und das in | |
Finnland, flüchtet, nachdem sie von einem mächtigen (west)deutschen | |
Europapolitiker vergewaltigt wurde? Kann wirklich eine so platte politische | |
Europasymbolik unter dieser so sorgfältig aufs äußere Detail bedachten | |
Prosa intendiert sein? | |
Aber ob intendiert oder nicht – die Symbolik ist da, und sie kann | |
mitgelesen werden und wirft auch noch eine weitere Frage auf: Hat es nicht | |
selbst etwas Kolonisierendes, oder zumindest etwas Übergriffiges, wenn eine | |
deutsche Autorin eine tschechische Romanfigur auf diese hochsymbolische | |
Weise zum Opfer macht? Es schmeckt irgendwie unangenehm. | |
Dieser Artikel erschien erstmals am 8. Oktober 2021. | |
19 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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