# taz.de -- Roman „Die Überlebenden“: Bullerbü ist anderswo | |
> Alex Schulmann ist ein Star in Schweden. Sein Roman „Die Überlebenden“ | |
> erzählt bezwingend klar über eine Kindheit in Ungeborgenheit. | |
Bild: Auch wenn er lässig aussieht: Alex Schulman hat viel zu verarbeiten | |
Es könnte ein Bild schönster schwedischer Sommeridylle sein: Ein rotes | |
Holzhaus steht unter Bäumen auf einer Wiese; im Hintergrund ein See, | |
umgeben von Wald. Auf der Wiese sitzen im letzten Fleck abendlichen | |
Sonnenlichts eine Frau und ein Mann an einem Tisch. Auf dem Schoß der Frau | |
liegt ein Hündchen. Auf dem See schwimmen drei kleine Jungen um die Wette. | |
Doch das [1][hier ist nicht Bullerbü]. Das Bild trügt; es täuscht für | |
Momente eine Realität vor, die nur im Auge eines potenziellen Betrachters | |
existiert. Nur Minuten später hat sie sich aufgelöst, und dem Beobachter | |
würde auffallen müssen, dass die Erwachsenen ins Haus gegangen sind und die | |
Kinder weit draußen auf dem dunkel werdenden See sich selbst überlassen | |
haben. | |
Diese emblematische Szene steht am Anfang von Alex Schulmans Familienroman | |
„Die Überlebenden“. Er handelt von drei Brüdern, vor allem von Benjamin, | |
dem mittleren, der in jenem Sommer, von dem vor allem die Rede sein wird, | |
neun Jahre alt ist. Es ist seine Perspektive, der wir folgen. Auch seiner | |
Perspektive auf die Brüder Pierre, der zwei Jahre jünger, und Nils, der | |
vier Jahre älter ist. | |
Alex Schulman, in Deutschland als Autor bisher unbekannt, weil unübersetzt, | |
ist in Schweden ein Promi. Einer bekannten Künstler- und Medienfamilie | |
entstammend, hat Schulman sich als Blogger, Fernsehmoderator und Autor | |
selbst einen Namen gemacht – und bereits eine Handvoll Bücher | |
veröffentlicht, die sämtlich familienautobiografischen Hintergrund haben | |
und von der Kritik mal als „Roman“, mal als „Memoir“ bezeichnet wurden, | |
jedoch sämtlich nicht fiktional sind. Eines handelt von der alkoholkranken | |
Mutter des Autors und trägt den Titel „Vergiss mich“. | |
## Ins Reine kommen | |
Aber eben das scheint sehr schwierig zu sein für den Sohn, denn auch in | |
„Die Überlebenden“ bildet die Mutter, beziehungsweise ihre schwierige | |
Beziehung zu den Kindern, das eigentliche Zentrum des Romans. | |
Es ist tatsächlich insofern der erste „echte“ Roman, den Schulman | |
geschrieben hat, als viele der Ereignisse, die darin geschildert werden, | |
erfunden sind. Die Personen, die auftreten, sind es hingegen nicht zu | |
hundert Prozent, und der Autor macht in Interviews keinen Hehl daraus, dass | |
er auch in diesem Buch daran arbeitet, mit seiner Kindheit ins Reine zu | |
kommen, nur eben in fiktionalisierter Form. | |
Drei Brüder, einander entfremdet, begegnen sich nach langer Zeit wieder, | |
als ihre Mutter stirbt. Die Aufgabe der Beerdigung vereint sie | |
vorübergehend und führt sie zum Sommerhaus der Familie, in dem sie als | |
Kinder sämtliche Sommer zu verbringen pflegten und in das seit vielen | |
Jahren niemand von ihnen einen Fuß gesetzt hat. Die Gründe dafür enthüllt | |
die Erzählung nach und nach, und Schulman hat eine bestechend klare Form | |
dafür gefunden. | |
Die Rahmenerzählung läuft rückwärts, angefangen beim Eintreffen eines | |
Polizeifahrzeugs im Sommerhaus, weil zwei der Brüder eine brutale Prügelei | |
begonnen haben, bis zum vorangegangenen Tod der Mutter im Krankenhaus. Eine | |
Rückblende kommt der Rahmengeschichte chronologisch aufwärts entgegen, | |
angefangen beim traumatischsten aller Kindheitssommer der Brüder bis in die | |
Therapiestunden des erwachsenen Benjamin nach einem Suizidversuch. | |
## Wie Hänsel und Gretel | |
Wie beim Mischen eines Spielkartenblatts legt sich von jeder Seite des | |
geteilten Erzählstapels jeweils eine Karte über die letzte von der anderen | |
Seite, bis das Deck vollständig ist. | |
Diese Vorgehensweise ist nicht nur von bezwingender Klarheit, sondern wirkt | |
gleichzeitig fesselnd auf eine sehr klaustrophobische Art. Das | |
Ausgeliefertsein der Kinder an die Launen der Erwachsenen, die mangelnde | |
Fürsorge, das Gefühl der Isolation im abseits der Zivilisation gelegenen | |
Sommerhaus beschreibt Schulman so intensiv, dass er damit sämtliche | |
tradierten Klischees von herrlichem kindlichen Freispiel in der Natur | |
erzählend vernichtet. | |
Wenn die Brüder allein durch den Wald streifen, so wird damit kein | |
Bullerbü-seliges Abenteuerfeeling evoziert, sondern vielmehr ein | |
[2][Hänsel-und-Gretel-mäßiges Ausgesetztsein]. Die Entfremdung zwischen den | |
erwachsenen Brüdern erklärt der Roman am Ende durch ein großes, zu sehr | |
beschwiegenes familiäres Trauma. Denn irgendwann in jenem einen Sommer | |
geschieht eine Katastrophe … | |
## Emotionale Authentizität | |
Eine schockierende Wendung, die Schulman seinem Roman gibt, bietet im | |
Nachhinein auch eine Erklärung für die Entfremdung der erwachsenen Brüder | |
in der Rahmenhandlung, ist aber gleichzeitig einer der schwächeren Momente | |
des Romans – interessanterweise deswegen, weil es sich zu offensichtlich um | |
eines der fiktionalen Elemente handelt. | |
Die Stärke von Schulmans erstem „echtem“ Roman liegt nämlich, abgesehen v… | |
seinem hohen Formbewusstsein, gerade in seiner emotionalen Authentizität, | |
also wohl tatsächlich im dahinterliegenden autobiografischen Untergrund. | |
Dass ausgerechnet das Formelement „überraschende Wendung/schockierende | |
Entdeckung“ mit einem eindeutig fiktiven Inhalt gefüllt wurde, verursacht | |
einen kleinen, aber spürbaren Bruch und gibt der ansonsten so stringenten | |
Erzählung zum Ende hin noch den banalen Beigeschmack von etwas geplant | |
„Erfundenem“ an ganz zentraler Stelle. Mehr Fiktion ist eben nicht immer | |
gleich mehr Literatur. | |
5 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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